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Samstag, 26. September 2009

Alexander Moszkowski - Der Begriff der »Unmöglichkeit« (75. Todestag)

Alexander Moszkowski - Der Begriff der »Unmöglichkeit« 

Alexander Moszkowski

Der Begriff der »Unmöglichkeit«

Anaxagoras hatte die Behauptung aufgestellt, die Sonne sei größer als der Peloponnes. Unmöglich! rief ihm die Auslese der zeitgenössischen Intelligenz entgegen. In der Schule der Pythagoräer stiegen vorkopernikanische Ahnungen auf, die vage Erkenntnis von der Bewegung der Erde innerhalb des ruhenden Firmamentes. Diese Ahnungen konnten sich gegen das »Unmöglich!« eines Plato, eines Archimedes, eines Hipparch, gegen das »Höchst lächerlich!« eines Ptolemäus nicht durchsetzen. Das »Unmöglich« der Kurie war im ersten Anlauf stärker als das wissenschaftliche Bekenntnis des Galilei. Als Lavoisier seine Elemententheorie entwickelte, flog ihm aus der Mitte der französischen Akademie das »Unmöglich« an den Kopf; und Lavoisier selbst war wiederum schnell mit seinem »Unmöglich« auf dem Plan, als die Behauptung, Meteore könnten vom Himmel fallen, ihm nicht einleuchten wollte. Die erste Beobachtung der Sonnenflecken löste bei den Gelehrten ein vielfältiges »Unmöglich!« aus. Die Pioniere des Dampfschiffes, Papin, Fulton, Salomon de Caux, wurden für verrückt erklärt und fanden ihren Weg durch die Barrikaden des »Unmöglich« verrammelt. Galvani wurde als Froschtanzmeister verhöhnt und rannte gegen das »Unmöglich« ganzer Fakultäten. Arago schleuderte sein »Unmöglich« gegen die Annahme, die Eisenbahnen könnten einen Verkehrsfortschritt bedeuten. Thiers und Proudhon rannten sich auf denselben Geleisen mit überzeugungstreuem »Unmöglich« fest. Der große Physiker Babinet bewies mathematisch die »Unmöglichkeit « eines Telegraphenkabels zwischen Europa und Amerika. Der nicht minder hervorragende Physiker Poggendorf warf den Telephonerfinder Philipp Reis mit seinem autoritären »Unmöglich« zu Boden, und da doppelt besser hält, brachte er auf dieselbe Weise auch Robert Mayer mit seinem Gesetz von der Erhaltung der Kraft zur Strecke. Der epochale Elektriker Ohm wurde von einem wissenschaftlichen, auf das Motiv »Unmöglich« abgestimmten Männerchor verhöhnt, Gay Lussac, Siemens und Helmholtz verwiesen jeden Gedanken an die Aviatik in das Gebiet der närrischen Utopie; und als der berühmte Magnus im Kolleg einen elektrischen Lichtbogen entzündete, erklärte er — das habe ich selbst als junger Student aus seinem Munde gehört — : dieser Lichtbogen könne für die Beleuchtungstechnik unmöglich eine Bedeutung gewinnen. Als Franklin mit seiner blitzableitenden Eisenstange anrückte, fuhr ihm sofort der Donner der »Unmöglichkeit« in einem Gewitter der Königlichen Akademie zu London durch die Knochen. Auguste Comte verwies wenige Jahre vor dem Aufflammen der Spektralanalyse jeden sternanalytischen Gedanken in das Gebiet der absurden Unmöglichkeit. Stephenson, Riggenbach wurden als Verrückte klassifiziert und hatten ihre Ideen, daß man mit einer Lokomotive über Land und mit einer Zahnradbahn auf den Berg gelangen könnte, gegen eine Welt akademischer Unmöglichkeiten zu verteidigen. Das klassische Hauptquartier der Unmöglichkeiten ist allzeit die Pariser Academie des sciences gewesen. Von der chemischen Zerlegung der Luft angefangen bis zum Edisonschen Phonographen haben die konservativen Herren dieser Körperschaft nie aufgehört, alles, was die platte Denkbarkeit der jeweiligen Praxis überflügeln wollte, mit dem Bannfluch »Unmöglich« zu zerschmettern.


Fassen wir zusammen: Es gibt in der ganzen Entwicklung keinen Begriff, der sich so nachhaltig und so furchtbar blamiert hätte, als der der »Unmöglichkeit«. Ja man könnte vielleicht nach Analogie feststellen, daß man die Zukunft sicherer erraten wird, wenn man ihr auf den geschwungenen Kurven der Unmöglichkeit als auf der geraden Linie der momentanen Wahrscheinlichkeit nachspürt. Einigen wir uns auf einem Mittelweg: Versuchen wir die Entwicklung an der Hand der Evolutionsmethode aufzubauen, auf Grund der uns einleuchtenden Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, nur mit dem Vorsatz, tapfer bis zu Ende zu denken, nirgends halt zu machen, auch dort nicht, wo der Kontrast zwischen dereinst und heut sich zu einer Unmöglichkeit auszuwachsen droht. Seien wir Modernisten im Sinne des konsequenten, rücksichtslosen Durchdenkens, nicht im Sinne jener modernistischen Theologen, die zwölf biblische Wunder leugnen, um das dreizehnte zuzugeben, und die froh sind, wenn sie dem Vatikan von der Gleichung 2 mal 2 = 5 bis auf 2 mal 2 = 4 1/10 heruntergehandelt haben. Solches Halb- und Dreiviertel-Denken würden wir aber uns zu eigen machen, wenn wir etwa bekennen wollten: ja, auf dem Gebiete der Technik und Wissenschaft ist auch das »Unmögliche« möglich. Nur in der Kunst müssen wir an gewissen Unerschütterlichkeiten festhalten; genau so wie der gelehrte Höfling die allgemeine Wahrheit »Alle Menschen müssen sterben« mit einem devoten Seitenblick auf König Ludwig abdämpfte: »Fast alle Menschen!« Kontinente können verschwinden, Planeten sich auflösen, aber konzertiert wird immer werden! Im Felde der Kunst soll das Reservat gelten, gewisse Fundamente, auf die bisher alle Künstler gebaut haben, für sakrosankt und unzerstörbar zu halten. Sie sind zerstörbar, und wir brauchen nicht einmal mit irgendwelcher Unwahrscheinlichkeitsrechnung zu operieren, wir werden nur entschlossen die Phasen der Vergangenheit auf die Zukunft zu projizieren haben, um dies mit ziemlicher Deutlichkeit zu erkennen.


Nach diesem Exkurs auf die Unmöglichkeitsdoktrinen seit Pythagoras werden Sie vielleicht dem zukünftigen Erlebnis des Wanderers Chidher schon ein ganz klein wenig näher rücken; Sie werden bereit sein, mir zu konzedieren, daß die Existenz eines Tausendjährigen Reiches und einer Zukunftsstadt ohne Opernhäuser, ohne Gemäldegalerien und ohne Konzertsäle wenigstens nicht zu den logischen Undenkbarkeiten gehört. Und das ist alles, was ich für den Augenblick von Ihnen verlange.

aus: Entthronte Gottheiten, Hoffmann & Campe Verlag, 1921

Donnerstag, 24. September 2009

Marianne Hainisch - Die Weltpropaganda für den Frieden



Bild (Marianne Hainisch) aus dem Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek

Die Weltpropaganda für den Frieden
Marianne Hainisch

Frauenzeitung, 5. Mai 1924


Vor uns liegt das letzte Bulletin der »Internationalen Frauenlige für Freiheit und Frieden«. Es wurde der »Neuen Freien Presse« zugesendet, und wir nehmen Anlaß, es jetzt zu besprechen, wo in Washington und London hochinteressante Frauenkongresse stattfinden, die Frauen aus allen Weltgegenden zur Friedenspropaganda sammeln.
Wie wenig weiß man und wie wenig kümmert man sich in Oesterreich um eine Bewegung, die von höchstem Interesse für die ganze Menschheit ist. Früher oder später, einmal wird sie allgemein werden, und wird der Welt das Heil eines vertrauenswürdigen Friedensgerichthofes, das Recht an Stelle der Gewalt bringen. Man wird dann nicht vergessen dürfen, daß viele ausgezeichnete Männer Mitarbeiter waren, aber die Frauen werden das Verdienst haben, der Barbarei Einhalt getan zu haben.
In der Einladung zur Internationalen Konferenz, die der Frauenweltbund – Int. Council of Women – vom 6. bis 8. Mai in London abhält, heißt es: »In der Vergangenheit fußten die Relationen der Regierenden auf ihrer Kriegsstärke, die Diplomaten bedienten sich ihrer.
In der Tat war daher der Krieg Anarchie. Anstatt dieser soll künftig das internationale Recht walten. Damit dies möglich wird, bedarf es aber der Umwandlung der öffentlichen Meinung; dies zu bewirken, das ist unsere Aufgabe.«
Die Konferenz hat sich die Beratung der Ursachen des Krieges und deren Beseitigung zur Aufgabe gestellt, und hat eine sehr bemerkenswerte Tagesordnung aufgestellt. Es steht ein großer Zuspruch zu dieser Konferenz zu erwarten, da sie in den Räumen der British Empire Exhibition in Wembley stattfindet.
In Washington tagt die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, die Zweige in allen Kulturstaaten hat. Auch in Wien ist der Sitz eines Zweiges und man darf nicht sagen, daß dieser untätig ist.
     Vor zwei Jahren hat er einen beachtenswerten Kongreß in Wien veranstaltet und eben jetzt ist Frau Yella Hertzka als dessen Delegierte in Washington. Aber im ganzen genommen, blüht der österreichische Zweig der Liga doch im Verborgenen. Es gilt, die Presse für seine Bestrebungen zu interessieren. Allein die Berichte, die in dem Bureau der Liga aufliegen, sind bemerkenswert. Sie werden in Genf redigiert und erscheinen in Bulletins in deutscher, englischer und französischer Sprache, sie machen mit dem Stand der Weltpropaganda in der Friedensfrage bekannt. Diese Bulletins sind ohne Zweifel optimistisch gefärbt, aber selbst, wenn man das annimmt, setzen sie in Erstaunen. Wir erfahren zum Beispiel, daß die Kundgebungen: »Nie mehr Krieg!« im Jahre 1923 eine Verbreitung hatten, von der wir uns keine Vorstellung machten. In allen Weltteilen fanden Kundgebungen statt. So hingen auf manchen Eisenbahnstationen durch Wochen die diesbezüglichen Plakate. In England, von wo die »No more war!«-Manifestation ihren Ausgang nahm, fanden große Umzüge aller Partein unter der Parole statt. Anderseits richteten über hundert Städte einen Appell an die Regierung, sie möge zur Abrüstung zu Land, zur See und in der Luft schreiten. In Amerika erhielt der Präsident Aufforderungen ohne Zahl, die wegen Kriegsdienstverweigerung Gefangenen zu begnadigen, bis er endlich dreißig frei ließ.
Von Interesse sind auch die gesammelten Friedensausprüche der Regierenden, so sehr diese mit deren Taten in Widerspruch stehen. Ein Appell Romain Rollands, der die Unterschriften einer Anzahl bekannter Franzosen trägt, ist ebenfalls bemerkenswert. Er wendet sich an die französische Regierung und fordert von ihr Ritterlichkeit und Seelengröße. Unter den ferneren Friedenskundgebungen, die in dem besprochenen Hefte enthalten sind, ist die bemerkenswerteste die Erklärung des französischen Zweiges der Liga an die Presse am Gedenktage des Waffenstillstandes. Wir glauben, sie anführen zu sollen. Die Erklärung lautet:


»An die Presse!

Da wir niemals der Ansicht waren, daß aus dem Kriege und der Vernichtung der Besiegten irgend etwas Gutes folgen könne, da wir seit 1919 gegen die äusserste Härte der Friedensverträge protestieren und eine Revision derselben gefordert haben, konnten wir den Tag des Waffenstillstandes niemals feiern und als Siegesfest betrachten, sondern haben ihn stets als Jahrestag der Beendigung des Blutbades angesehen. — Wir bedauern tief, daß dieser Tag durchaus kein Zeitalter des Friedens eröffnet hat, und messen den größten Teil der Schuld hieran der französischen Politik bei, die nicht bloß unbarmherzig, sondern auch von blinder Hartnäckigkeit geleitet ist, und nicht bloß im Widerspruch zu den edelsten Traditionen Frankreichs steht, sondern auch für die wahren Interessen des Landes von trauriger Wirkung ist. Nachdem die Frauen der französischen Sektion versucht haben, vom Sieger einige gerechte Zugeständnisse zu erlangen, deren Gewährung bloß weiser Vorsicht entsprochen hätte, können sie sich mit der Politik der Regierung nicht solidarisch fühlen, und arbeiten gemeinsam mit ihren Schwestern in allen Ländern unmittelbar an der Versöhnung der Völker.«


Gewiß sind alle die Kundgebungen noch vereinzelt, aber sie dürfen von den Friedensfreunden nicht übersehen werden. Diese müssen all die Menschen darauf aufmerksam machen, die vor einem kommenden Krieg zurückschrecken, aber inaktiv den Dingen ihren Lauf lassen. Diese sind gegen die Vertreter der Revanche zu organisieren und gleichzeitig ist den letzteren klarzumachen und nachzuweisen, daß derzeitig keine politische Konstellation den besiegten Völkern Aussicht auf einen sieghaften Krieg bietet, der den vergewaltigten Nationen zu ihrem Rechte verhilft.
     Auch wir Friedensfreunde gäben uns nicht damit zufrieden, wenn die Grenzen blieben und die Minoritäten fort vergewaltigt werden, auch wir fordern unsere nationalen Bürgerrechte, wir haben aber keine Hoffnung, daß sie derzeit mit Gewalt zu erkämpfen sind, dagegen versprechen wir uns von einer sittlichen Beeinflussung die Anbahnung von Sittlichkeit und Gerechtigkeit.
     Eines steht fest, Krieg ist ein Widerspruch zu Kultur und Humanität, und es steht fest, daß selbst ein siegreicher Krieg die Bevölkerung nicht beglückt. Es ist die wirtschaftliche Zerrüttung nicht zu übersehen, und nicht die kulturelle Schädigung und Entfesselung der bösen menschlichen Anlagen; vor allem aber vernichtet der Krieg, ja er befiehlt den Mord.
     Dagegen sträubt sich das weibliche Empfinden. Mord bleibt für uns Mord. Wir sind dabei auch Mütter und erheben daher die Forderung, daß unsere Söhne nicht getötet und nicht verstümmelt werden. Unsere Kinder sollen nicht begraben oder verstümmelt sein, sondern sie sollen leben zum eigenen und des Vaterlandes Wohl. Beseelt von diesem Wunsche, erheben gegenwärtig Hunderte von Vorkämpferinnen in Washington und London die Forderung nach Abrüstung.
Ich fordere die österreichischen Frauen auf, unsere Wortführerinnen zu unterstützen und der Friedensliga beizutreten. Das Bureau befindet sich in der Hofburg, Michaelertor, Prachtstiege. Es ist eine Ehrenpflicht der österreichischen Frauen, an dem Aufbau des großen Werkes teilzunehmen. Der Lohn, der uns winkt, ist jedes Opfer wert: es ist das Heil unserer Söhne und es ist die Beendigung brutaler Gewalt und der Sieg des Rechtes auch im Völkerleben.


(Der Text basiert auf Vorlage von Sophie Literature wurde jedoch von ngiyaw eBooks nachkorrigiert.)

Montag, 21. September 2009

Aloisia Kirschner (Ossip Schubin) - Die Schlange




Jules Joseph Lefebvre  - Mary Magdalene In The Cave

Aloisia Kirschner -  Die Schlange



Der Sommer lag im Sterben! Gleich unheilkündender Fieberröte, die über die Wangen todkranker Menschen huscht, durchflackerte brennendes Rot die sich lichtenden Wälder. Die Luft war feucht und lau und aus dem faulenden Laub auf dem Boden stieg ein süßer, unheimlicher Duft — ein Duft, welcher zum Leben aufreizte und der Verwesung entstammte. Die Rosen blühten noch überschwänglich an Büschen, die schon begonnen hatten ihre Blätter zu verlieren. —
Die Sonne war im Sinken, und der Himmel mit grauen Dünsten bedeckt. Aus einem Wirtsgarten tönte Musik. Dort dröhnten die Trompeten und schnarrten die Geigen, und lustige Bursche und Mädel drehten sich im Kreise und tanzten jubelnd auf dem welken Gras.
Am Gartenzaun, sehnsüchtig hinüberspähend nach dem munteren Reigen, stand einsam und verlassen ein Dirnlein in einem weißen Kleide mit einem Blumenkranz auf dem Haupt. Sie war gar schön von Angesicht, aber der Saum ihres hellen Gewandes war beschmutzt, und die Blumen ihres Kranzes waren welk. Und als die Bursche sie erblickten, lachten sie laut und keck, und die Mädchen wiesen mit den Fingern auf sie, und die Alten, welche, von längst vergangenen Dingen plaudernd, um das junge Volk herumsaßen, erhoben dräuend die Faust und schrieen: »Hinweg mit dir, Magdalena!«
Da senkte sie ihr wunderschönes Haupt und schlich sich fort. Von Dorf zu Dorf wanderte sie, von Stadt zu Stadt, gemieden und beschimpft, doch noch immer mit dürstend geöffneten Lippen und vor Sehnsucht fieberndem Blick umirrte sie allabendlich die Orte, wo die Musik erschallte und die Jugend tanzte — wie ein Gespenst unruhig die Stätte umschwebt, wo seine Freude begraben liegt.
Immer müder wurde sie und immer welker wurde ihr Kranz. Die Menschen verdoppelten ihre Grausamkeit gegen sie, und sie floh vor ihnen. Sie kam auf eine große, öde Heide; über die fegte laut tobend ein wilder Sturm und rüttelte an jedem Halm und Blatt. Er rief den Blumen zu: »Kommt mit  ... kommt mit!« und zeigte ihnen das Wunderland der Ferne. Da wand sich der Ginster hin und her in sehnsüchtigem Verlangen, dem Lockruf zu folgen, und die winzigen Blütenglöcklein des Heidekrautes zitterten vor Reiselust. Aber sie konnten sich nicht losringen von dem Boden, dem sie entsprossen, in dem sie Wurzeln geschlagen hatten. Der übermütige Geselle küßte neckend den frischen Purpur des Heidekrauts welk und riß die gelben Blüten des Ginsters herab, trieb sie ein Weilchen mit sich fort und ließ sie dann liegen. Traurig und krank zitterten die Blumen noch immer und lauschten sterbend dem verführerischen: »Kommt mit ... kommt mit!« Die weite Heide bebte wie im Fieber, bebte wie ein Herz, das keine Ruhe finden kann!
Matt und elend sank Magdalena zu Boden und schlief ein zwischen den verdorrten Blumen.
Als sie erwachte, da war sie Mutter geworden, und das Kind, das sie geboren, war eine große, gleißende Schlange. Ein namenloses Grauen kam über sie, und als die Schlange versuchte, sich zu ihr emporzuheben, stieß Magdalena sie schaudernd zurück.
Aus dem platten Kopf des Ungeheuers sahen ein paar große, treue Menschenaugen, und mit herzgebrochenem Blick hefteten sie sich auf die Mutter. Dann versuchte die Schlange sich verschämt zwischen den welken Gräsern zu verkriechen. Sie fühlte, daß es ihr Lebenslos sei, Abscheu einzuflößen.
Ein tiefes Mitleid überkam Magdalena. Ihren Widerwillen mühsam verwindend, neigte sie sich zu dem Ungetüm, erfaßte es mit ihren zarten Händen, wickelte seinen schlüpfrigen Leib um ihren weißen, warmen Hals, küßte seinen häßlichen, platten Kopf und sprach: »Sei nicht traurig und ängstige Dich nicht; wenn alles sich vor Dir scheut, will doch ich Dich lieb haben, will ich Dich hegen und pflegen und Dich nimmer verlassen. Bist ja mein Kind!«
Todesbeben schüttelte sie, während sich die Mißgeburt zufrieden an sie schmiegte. —
Und weiter zog sie nun, weiter ohne Rast, ohne Ziel, ihren öden, schmerzensreichen Weg. Wenn man sie früher verachtet, scheute man sie jetzt. Nicht einmal ein Almosen warf man ihr mehr zu.
Sie versteckte sich in den Wäldern und ernährte sich und die Schlange von Wurzeln und Beeren. —  Der Winter kam, und die Rotkehlchen« starben. Weiße Flocken fielen vom Himmel, des Sommers Lieb und Leid, Blüte und Verwesung deckte ein weißes Leichentuch. Eiskalte Reinheit erfüllte die Luft. Kein Vogelgesang, kein Blättchen regte sich. Die schwüle Unruhe des Lebens schlief!
Die Schlange fror. Magdalena löste ihr weiches, goldenes Haar und deckte damit das Ungeheuer zu. Die Schlange hungerte. Umsonst suchte Magdalena Nahrung für sie, umsonst wühlte sie mit ihren halb erstarrten Händen im Schnee, sie fand nichts. Da drückte sie den Kopf der Schlange an ihre Brust und sprach: »Nimm mein Herzblut!«
Und die Schlange biß in ihre weiße, warme Brust und trank ihr Blut.
Brennender Schmerz durchzuckte die Unglückliche — dann aber senkte sich über sie ein tiefer, heiliger Friede. Zum erstenmal seit ihrer traurigen Wanderschaft blickte sie empor. Vor ihr stand ein Kreuz, daran der Heiland hing mit blutigen Händen und Füßen.
Die Sünderin erschrak und wich zur Seite. Doch durch die Stille erklang es süß und mild: »Magdalena!«
Sie blieb stehen. Der Heiland neigte sich zu ihr und flüsterte ihr zu: »Ruh’ aus!« —
Bestürzt blickte sie an sich herab auf ihre beschmutzten Gewänder.
Ihr Kleid war blendend weiß; sie griff nach ihrem Kranz, um ihn aus ihrem Haar zu lösen, aber der Bacchantenkranz hatte sich in eine Dornenkrone verwandelt! — die Krone der Märtyrer. Da sank sie nieder zu den Füßen des Heilands, dankte ihm für seine große Gnade und pries ihn in inbrünstigem Gebet. Als sie sich von neuem aufraffen wollte, suchte sie die Schlange — die war verschwunden. Statt ihrer stand neben Magdalena ein Engel mit mächtigen goldenen Schwingen und den schönen Augen des Ungetüms. Er sprach nur das eine Wort: »Mutter!« Dann nahm er sie in seine starken Arme und trug sie empor zum Himmel — zu den Sternen! —

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Donnerstag, 17. September 2009

Mehr über die Blutgräfin - Abschrift des Zeugen-Verhörs

Abschrift des Zeugen-Verhörs in Betreff der grausamen That, welcher Elisabeth v. Báthori, Gemahlinn des Grafen Franz Nádasdy beschuldiget wird. 1611.

6tens. Wer waren die Werkzeuge bei dieser Peinigung und Ermordung?

Antw. Außer diesen drei Weibern, ist eine zu Cheite, Frau Helene, genannt die kahle Kutscherinn, auch die marterte die Mädchen. Die Frau selbst stach sie mit Nadeln, wenn sie mit ihrer Strickerey nicht fertig wurden. Nahmen sie ihr die Haarwickeln nicht aus, brachten sie ihr nicht Feuer herauf, legten sie ihr die Schürze nicht zurecht: so wurden sie von den alten Weibern sogleich in die Marter-Kammer gebracht und zu Tode gepeiniget. Selbst mit dem Kräusel-Eisen brannten die alten Weiber und sie selbst den Mund, die Nase, das Kinn der Mädchen. In den Mund derselben steckte sie ihre Finger, und zog ihn auseinander. Wenn sie mit ihrer Nätherey bis 10 Uhr nicht fertig waren; so wurden sie gleich in die Folterkammer gebracht. Auch zehnmal des Tages führte man sie zur Marter, wie die Schafe. Manchmal standen vier bis fünf Mädchen nackt da und mußten so ihren Theil nähen oder stricken. Ihr Sitkerr-Mädchen brachte sie darum um, weil sie eine Birn entwendet hatte; sie fieng dieselbe auch so zu martern an und mordete sie mit einem abgezehrten alten Weibe. Die Putzmacherinn aus Wien brachte sie mit der Frau Helena zu Keresztur um. mehr
Transkription von der deutschsprachigen wikisource - dort finden Sie auch die dazugehörigen Digitalisate.
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Elisabeth Báthory - Eine wahre Geschichte

Mal kurz in der Pause gelesen:
Wenn Grausamkeit und Blutdurst den Mann entehren, ihn dem allgemeinen Abscheu Preis geben, und mit dem Fluch der beleidigten Menschheit brandmarken; so findet die Sprache keinen Ausdruck, die Gefühle der empörten Natur zu bezeichnen, wenn ein Weib diesen unnatürlichen Trieben fröhnt. weiterlesen
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Mittwoch, 16. September 2009

Lou Andreas-Salomé – Die Erotik

Leseprobe aus Die Erotik
DAS EROTISCHE WAHNGEBILDE

Nun ist es interessant zu sehn, wie grade an diesem Punkt das Thema des Erotischen am stiefmütterlichsten behandelt wird. Allerdings enthält diese Geistesbeteiligung am Liebesrausch so viel – Rausch, so deutliche Symptome der Trunkenheit, daß kein Ausweg zu bleiben scheint, als sie auf romantisches Terrain abzuschieben, oder als einigermaßen pathologisch zu beargwöhnen. Dieser wunde Punkt an der ganzen Geschichte wird meistens nur so berührt, wie wenn die Narrenkappe, die unser Verstand hier zeitweilig aufsetzt, davon abhielte, seinen Zustand selber ernst zu nehmen. Im allgemeinen begnügt man sich damit, die Sexualität unter die Lupe zu halten wie sie lokalisiert erscheint in den niedern Hirnzentren, und dann ihr das Gefühlsmaterial unerotischer Art anzugliedern, das, Gott sei Lob und Dank, sich allmählich ja auch mit ihr zusammentut, wie etwa Wohlwollen, Güte, Freundschaft, Pflichtbewußtsein und ähnliches, Diese alle werden durch die ins Kraut schießende berauschte Überschätzung nicht einmal gefördert, im Gegenteil steht sie der Liebe als einer sozialen Nutzpflanze zunächst nur hinderlich im Wege. Aber etwas Menschlichstes am sexuellen Erleben geht leer aus, wenn die menschliche Verrücktheit dabei gar zu sehr als quantité négligeable abgetan wird. An den urteilstollsten Ergüssen von Liebenden aller Zeiten und Völker ergänzt sich uns erst das volle Material dessen, was der Mensch kraft seines mitfiebernden Intellekts aus dem Sexus gemacht hat: und erst dann, wenn wir es weder selber romantisch betrachten, noch auch mit halbwegs medizinischem Interesse. Denn es enthält ja die geistige Sprache dessen, was seit Urweltstagen das Geschlecht auszudrücken bemüht gewesen ist in körperlicher Deutlichkeit als seinen einzigen Sinn: daß es das Ganze nimmt und gibt. Die Revolution der Geschlechtszellen, die diese allmählich nur noch allein ganz Mitbeteiligten in der übrigen Physis anrichten, der Aufstand dieser Rückständigen, Freigeborenen, – gleichsam unsres Ur-Adels, – im wohlgeordneten Körperstaat, kommt darin dem Geist zu Gehör. In ihm, als dem Obersten, dem zusammenfassenden Organe über der Vielfältigkeit der andern, kann ihr selbstherrlicher Wille seinen Wiederklang finden, – ja, das bloße Dasein des Geistes schon verwirklicht in etwas ihre anspruchsvollen Wünsche, insofern sie von ihm aus erst wieder als einheitliche Macht auf alles zurückstrahlen, und sei es auch einstweilen nur als ein Scheinfeuerwerk: als Illusion. Es begreift sich, warum sogar noch Schopenhauer einen tiefen Griff in seinen metaphysischen Sack tat, um diese Liebesillusion als eine der verschmitztesten Mausefallen seines »Willens zum Leben« zu verfehmen, mitsamt ihrem blendenden Köder darin: man fühlt förmlich die Wut aller Düpierten heraus. Denn allerdings, von dem Augenblick an, wo das Geschlechtliche einfach eingereiht ist als ein Einzelprozeß unter die vielen sonstigen im hochorganisierten Körper, muß die brennend eifrige Gesamtergriffenheit gewissermaßen ins Leere ausschwingen. Sie kann nur noch Luxussache sein um die geschlechtlichen Tatsachen herum, sozusagen Lock- und Verführungsarbeit, die das Notwendige und Wirkliche dran umkleidet und schmückt mit einem vergeuderischen Überfluß, den ihr keine Wirklichkeit je zurückzahlt. Und dennoch unterliegt sie damit nicht lediglich einer Selbstbetrügerei, wie viele andre sie auch unwillkürlich mitbetrügen mag: sie versucht nur zum erstenmal mit rein geistigen Mitteln sich einen eigenen Weg, einen Geistesweg, durch die körperlichen Bedrängnisse zu bahnen bis in irgend ein verlornes Paradies. Darum erleben wir sie um so gewisser, je echter eine Liebe in uns ist, und mischt sich erst unsre ganze Hirnkraft helfend ein, dann nur um so verrückter. Nicht selten liegt im ganzen Verhalten von Liebenden gegeneinander ein wenig von dieser Ahnung ausgedrückt, dem andern doch nur verklärt, verhüllt, sichtbar zu sein, und – ohne jede Pose oder Absicht – ein gleichsam davon gebanntes Eingehen auf sein Traumbild. Gewisse Dinge, die schönsten, lassen sich eben, sozusagen, nur stilisiert, nicht rein realistisch, in ihrem vollen Sein erleben, wie wenn in ihnen eine ungeheuer dichterische Fülle nur mit Hilfe einer um so gehaltenem Form aufgenommen werden könnte: von ehrfürchtiger Schönheitssehnsucht angeordnet, worin man mit mehr Zurückhaltung als je, mehr Rückhaltlosigkeit als je, in einer ganz neuen Wesensmischung also, sich gibt. In dieser wahnvermittelten Wirkung doch von bindenderm Einfluß aufeinander als alle tatsächliche Abhängigkeit je zustande brächte; denn bleibt der andere damit für uns auch »draußen«, außerhalb von uns, – nur eben unsern Wesensumkreis fruchtbar anrührend, – so geht doch von solchem Punkt aus erst die ganze übrige Welt uns auf, er wird uns zum eigentlichen Vermählungspunkt mit dem Leben, diesem sonst nie ganz innerlich einbeziehbaren Außen der Dinge: er wird das Medium, wodurch das Leben für uns beredt ist, die grade unsre Seele treffenden Laute und Akzente findet. Lieben heißt im ernstesten Sinn: Jemanden wissen, dessen Farbe die Dinge annehmen müssen, wenn sie bis ganz zu uns gelangen wollen, so daß sie aufhören gleichgültig oder schrecklich, kalt oder hohl zu sein, und selbst die drohendsten unter ihnen, wie böse Tiere beim Eintritt in den Garten Eden, sich besänftigt uns zu Füßen strecken. In den schönsten Liebesliedern lebt etwas von dieser mächtigen Empfindung, als sei das Geliebte gar nicht nur es selbst, sondern auch das Blatt noch, das am Baume zittert, der Strahl noch, der auf dem Wasser erglänzt, – verwandelt in alle Dinge und Verwandlerin der Dinge: ein Bild, zersprengt in die Unendlichkeit des Alls, damit, wo wir auch wandeln mögen, es in unsrer Heimat geschehe. Deshalb fürchtet man so berechtigt eines Liebesrausches Ende durch das allzu gründliche Sichkennenlernen, deshalb beginnt jeder echte Rausch mit etwas wie einem schöpferischen Ruck, der Sinne und Geist in Schwingung versetzt. Deshalb eine bei aller Beschäftigung mit dem andern doch nur geringe Neugier, wie er wohl eigentlich »ist«, und selbst bei weit übertroffenen Erwartungen, die einen Bund nach allen Seiten gefestigt und vertieft haben, unter Umständen doch eine starke Enttäuschung bloß deshalb, weil der Spielraum nicht mehr vorhanden ist, um sich zum andern schaffend dichtend, »spielend« zu verhalten. Ganz kleine Reizbarkeiten heften sich damit oft an eben dieselben kleinenZüge, die ehemals dazu im besondern anregten und drum besonders entzückten: daß sie uns nun hinterher nicht wenigstens gleichgültig lassen können, vielmehr irritieren, erinnert noch an die Tatsache, einer wie fremden Welt unsre Nerven damals entgegenzitterten, – einer wie fremdgebliebenen.

Zur Autorin:
Lou Andreas-Salomé
(12. Februar 1861, St. Petersburg – 5. Februar 1937, Göttingen)
geborene Louise von Salomé; gelegentliches Pseudonym Henry Lou war eine weit gereiste Schriftstellerin, Erzählerin, Essayistin und Psychoanalytikerin aus russisch-deutscher Familie. Die Art ihrer persönlichen Beziehungen zu prominenten Vertretern des deutschen Geisteslebens – in erster Linie zu Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud – war und ist bis heute Gegenstand unterschiedlicher Interpretationen. mehr
Verfügbarkeit:
Bei ngiyaw eBooks unter der Autorin im pdf- und ePub-Format zum kostenlosen Download und als html zum online-Lesen.
Der Text folgt der Ausgabe: Lou Andreas-Salomé, Die Erotik, Literarische Anstalt Rütten & Loening, Frankfurt am Main, 1910 und steht auch als Digitalisat bei ngiyaw eBooks zur Verfügung.

Hermynia Zur Mühlen - Tod dem Bourgeois!

Tod dem Bourgeois! Er hockt herum, schwersäßig, angefressen, stumpf, ein Erdklumpen, jedes Aufschwungs unfähig, kleinlich bis in die letzte ...