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Mittwoch, 23. März 2011

Marie Eugenie delle Grazie – Schlafende Blumen


Mit einem unmutigen Ruck schob die kleine Blondine das Buch von sich, strich ein paar zudringliche Härchen aus der Stirne, steckte eine Nadel fest, die aus dem goldenen Zopf in den feinen Nacken geglitten war  sah in den sonnenglastenden Garten hinaus, von dem Garten wieder in das Buch zurück. Daß sie sich heute so gar nichts merken konnte, trotz des besten Willens Und morgen war die letzte Botanikstunde im Lyzeum. Wenn sie da nichts wußte ...  Konnte das eine Schlußnote werden!

Bei der Besprechung der artenreichen Pflanzenfamilie der Kruziferen war der Lehrer auch auf die Nachtviolen gekommen und hatte ihnen viel Merkwürdiges von diesen seltsamen Blumen erzählt. Besonders von der »Frauenkilte«, der Linné den schönen Namen Hesperis tristis gegeben. Malve war wieder einmal müde gewesen; müde und verträumt wie schon das ganze Jahr. So hatte sie von all der lieben Weisheit nur wenig mit nach Hause gebracht. Als sich aber die Erste der Klasse erhob und im Namen einiger Mitschülerinnen fragte, wo man die Frauenkilte finden könne, hatte sie doch auch aufgehorcht.

»In den meisten Gärten«, lautete die Antwort des Lehrers, und nicht ohne Humor setzte er hinzu: »Woraus Sie wieder einmal ersehen können, wie wenig bekannt die berühmten Leute sind.«

In den meisten Gärten, man denke Und Malves Vater hatte einen der größten. Wenn sie, ihre Bücher unter dem Arm, durch die schattenkühlen Straßen des Cottage heimschlenderte, schlug ihr der Duft seiner Blumen und Sträucher schon von weitem entgegen. Aber ob eine Hespiris tristis darunter war?

Rascher als sonst eilte sie heim und sofort auf den Gärtner zu, der jätend und gießend zwischen den Beeten auf und nieder ging.

»Haben wir eine Hesperis tristis?«

»Gewiß.«

»Wo?«

»Dort im Schatten. Soll ich eine herüberholen?«

»Heute nicht. Aber übermorgen schicken Sie mir einige hinauf. Ich brauche sie.«

Da standen die Blumen vor ihr, in der schlanken, kristallenen Vase, dicht neben dem Buch, in dem so viel über ihre Gattung zu lesen war; viel mehr, als Malve sich heute merken konnte. Und wenn sie die Blumen betrachtete, hatte sie erst recht keine Lust dazu. Die saßen doch so müde und traurig auf dem Stengel, Blatt um Blatt an sich gezogen, jeder Kelch. Als wenn sie nun und nimmer erblühen wollten Dazu das düstere Violett der Farbe ...

»Wenn ich heut' nicht müßte«, dachte die kleine Blonde. »Ich wüßte mir andre Blumen und einen anderen Zeitvertreib.«

Wieder irrte ihr Blick nach dem Garten hinaus, den die Abendsonne in eine leuchtende Glorie tauchte. Die feinen Nüstern blähten sich. Wie heiß der Duft der Rosen hereinschlug Wie süß der Jasmin atmete Gelb und purpurn und weiß leuchtete es zu den Fenstern herein. Und dort blühte eine auf, zart rosa, wie die Farbe ihres eigenen jungen Körpers.

Sie lehnte sich zurück, schloß die Augen, sog wie unbewußt den feinen Duft ein, der von den knospenden Brüsten durch das feine Batisthemd quoll. Was war denn nur geschehen mit ihr in diesen Tagen? Daß ihr Schlaf so schwer war und ihr Wachen wie ein einziger Traum? Daß ihr alles mit einem Male so wehtat und doch all dies Weh wie eine einzige Lust war? Sie hatte doch auch ihren Ehrgeiz gehabt, früher, hatte gerne und viel gelernt. Ihre Nase mehr in die Bücher gesteckt, als es den Ihren lieb war. Nun schien dies alles wie hinweggeblasen. Immer wieder diese Müdigkeit und zwischen all der Müdigkeit diese fremde, vage Sehnsucht. Wohin? Wem entgegen? Ja, wenn sie das gewußt hätte.

Das war im vorigen Jahre noch anders gewesen. Wieder öffnen sich ihre Augen, suchen einen Halt im grünen Geschaukel der Zweige, während die halbgeöffneten Lippen wie zwei durstige Rosenblätter der Kühle des Abends entgegenlechzen.

Im vorigen Jahre, oh!

Da ist ihr weißes Kleid dort zwischen den Büschen hin und her geflogen, ihr Lachen wie eine Rakete in die Luft gestiegen, ihr Tennisball so sicher an sein Ziel gekommen, wie heute nicht einer ihrer Gedanken. Und Cousin Hans war ihr Partner gewesen. Cousin Hans, der nun als blutjunger Attaché bei einer Gesandtschaft, fern, fern im Osten.

Damals hatte sie noch lachen und scherzen können und war nie müde geworden. In ihrer Klasse aber war sie die Zweite gewesen.

»Kindskopf« hatte Hans immer gesagt und, ohne daß sie es merkte, ihr Nadel um Nadel aus den dicken Zöpfen gezogen. Und sie hatte es gar nicht gespürt im Eifer des Spieles, war siegesfroh hin und wieder gesprungen. Bis sich auch die Zöpfe zu lösen begannen und sie plötzlich wie mit einem Ruck stehen bleiben mußte. Fast zu Boden gezogen von der Schwere des eigenen Haares, das sich wie ein Vließ um ihre Schultern legte.

»Wie schön das war« denkt sie. »Damals hab' ich es nicht gewußt und jetzt  Und mit einem Male ist ihr, als wüßte sie, nach wem ihre Sehnsucht gegangen, seit der Garten draußen wieder blüht. Sieht den Ball fliegen, hört das Lachen einer weichen Männerstimme.

Schon eine ganze Weile hat sie sich erhoben; lehnt im Fenster, ohne es recht zu wissen. Dort leuchtet der Tennisplatz herüber  weiß, wie gebohnert. Dort, wo der Jasmin duftet. »Im Schatten«, wo auch die Nachtviolen blühen.

Ein feiner Luftzug streift ihren bloßen Nacken, der Spitzenvorhang bläht sich. »Der Abendwind«, denkt sie und hört nicht, wie jemand hinter ihr die Tür schließt und näher kommt, immer näher. Da gleitet ihr eine Nadel aus den Flechten  wieder eine. Ein leises Lachen girrt sie an.

Mit einem Schrei fährt sie herum.

»Hans!«

Und er steht vor ihr, wahrhaftig, und lacht und hält die Enden der blonden Zöpfe fest. »Kindsklopf!«

Sie will ihm einen Schlag geben, wie damals. So einen festen, ehrlichen, kameradschaftlichen. Aber ihr ist, als hätte sie selbst plötzlich einen Schlag erhalten, und sie blickt ihn an mit großen, geisternden Augen.

»Ja  wo kommst du denn her?«

»Aus dem Lande der Opanken«, lacht er zurück. Aber  ist das noch sein Lachen? Das freie, frischen, unbefangene? Und auch sein Blick  Wie der über sie hingeht, sie umfängt und förmlich einhüllt. »Du bist groß geworden, Kleine!«

»Findest du? Aber nimm doch Platz.«

»Wo?«

»Nun, hier.«

»Du bist allein, hat man mir gesagt?«

»Papa und Mama sind im Theater.«

»Nimmt man dich noch immer nicht mit?«

»Zu den Klassikern schon.«

»Schon?« Wieder lacht er, blickt sie an. So fremd und doch so  Ihr wird, sie weiß nicht wie.

»Aber du?«

Er gibt keine Antwort, sieht sie noch immer an, wie sie so vor ihm sitzt: den Widerschein der Abendröte in dem schmalen Gesichtchen, den unruhigen Flackerglanz im Aug'. Freude, Scham und die erste, süße Ratlosigkeit des jungen Weibes!

Sie aber merkt erst jetzt, daß er noch immer das eine Ende ihres Zopfes festhält, und beginnt langsam weiterzurücken.

Verträumt ruht sein Blick auf ihr und merkt doch nicht, was sie tut und will. Ein Kind hat er verlassen  schmal, eckig, unfertig. Nun blüht ihm die reife Knospe entgegen, ein Frühling, wie er holder und schöner noch keinen geschaut. Und ohne daß sie es ahnt und er es wehren kann, taucht ein anderes Frauenantlitz vor ihm auf: Lippen, die er noch gestern heiß geküßt, Züge, die er seit Wochen Nacht für Nacht im Traume gesehen: die dunkle, exotische Schöne, der seine Sinne gehören und sein  Wort.

Eine Liebe, schwül, entnervend, wie die schwere Wolke von Parfüm, die sie umhüllt, die sie überall mit sich trägt. Hier duftet ihm nur der Reiz eines unberührten Mädchenleibes entgegen, aber der Frühling selbst schlägt die märchenblauen Augen vor ihm auf, so nah, wie er ihn nie gewahrend, das Antlitz der dunklen Schönen wie ein toter Spuk vor ihm zerrint  und begreift sich selbst nicht. Aber  er kann nicht anders.

Wie eine warme Welle zittert es zwischen den beiden. Etwas in seinem Aug' macht sie heimlich erbeben, daß sie weiter und weiter von ihm abrückt. Schon spannt sich die lange Flechte  Das goldene Seil, an das sich der Traum eines Mannes klammert, eine selige Minute lang. Wenn sie noch einen Ruck macht, muß es schon wehtun. Aber  sie macht diesen Ruck, und er, der nun erst merkt, was sie will, hält sie fest.

»Au!«

Und plötzlich lachen beide, lachen, wie sie vor einem Jahre gelacht, und er zieht sie an der goldenen Flechte näher und näher, wie damals. »Wirst du wohl  wirst du wohl?«

Ihr Haupt beugt sich ihm entgegen, wie damals. Die Augen blitzen zwischen den dunklen Wimpern hervor, die Zähne zwischen den zuckenden Lippen.

»Was gibst du mir, wenn ich dich loslasse?« scherzt er.

»Bonbons« lacht sie und will in die Tasche greifen.

Das alte, harmlose Spiel.

Aber plötzlich treffen sich ihre Blicke, und eh' er's gewollt, liegt ihr Haupt in seinem Arm und sein Mund auf dem ihren.
»Was gibst du mir?« haucht es über sie hin. Er will es noch immer als einen Scherz erscheinen lassen. So ein einziger Kuß zwischen Vetter und Base  Was ist dabei?

Sie aber schlingt die Arme um ihn, zieht sein Haupt herab. »Gib  gib  gib« Ihre Augen öffnen sich, weit, trunken, sehen ihn an und schließen sich wieder. Heiß rieselt es plötlich über seine Wangen, heiß über die Hand, die ihr Haupt hält. Sie weint.

»Kindkopf« will er wieder lachen und kann es nicht mehr. Das Spiel ist ernst geworden und darf sich doch nie mehr wiederholen  nie!

Draußen wird geschellt. Mit einem Ruck schnellen beide empor.

»Wer kann es sein?« fragt er.

Ihre Hand tastet nach ihm, auf den brennenden Lippen zittert ein Wort. Die weitgeöffneten Augen haben einen Glanz, der ihn quält und feige macht. Aber er sitzt schon wieder aufrecht da. Der Mann von Welt, der weiß, was sein kann und nicht sein kann, und daß ein gebrochenes Wort unter Umständen eine Kugel bedeutet und  eine zerstörte Karriere. »Endlich« denkt er, wie sich die Tür öffnet.

Malve ist aufgesprungen.

»Du, Rose? Sieh mal, wer bei mir ist Aber nimm doch Platz, bitte!«

Ihrem Eifer entgeht es, wie förmlich sich die beiden begrüßen. Die beiden, die vor einem Jahre so oft miteinander gezankt und doch immer wieder miteinander getanzt haben.

Sie merkt nur, daß es ihr um keinen Preis gelingen will, ein Gespräch in Gang zu bringen. So steif sitzt Rose da, so unbehaglich Hans. Und mit einem Male kriecht ein seltsames Bangen an ihre Seele, daß ihr ist, als müsse sie um sich seh'n und noch jemanden suchen, der hier ist, ohne daß sie davon weiß und sich dagegen wehren kann.

Der junge Diplomat erhebt sich.

»Du gehst schon?« Ihre Stimme bebt, in den Augen flackert eine Angst, die ihm wehtut, eine Sehnsucht, der er keine Antwort mehr geben darf.

»Ich muß, Malve.«

»Aber du kommst wieder?«

»Heuer nicht mehr.«

Sie starrt ihn an, als hätte sie nichts gehört. Aber sie hält sich aufrecht. Nur ihre Wangen werden blasser und blasser, und die Dämmerung legt mitleidig einen weichen Schleier über ihr Antlitz.

»Grüße Papa und Mama.«

»Du wirst doch schreiben?«

Er fühlt die Tränen in ihrer Stimme.

»Gewiß« gibt er ruhig zurück. Dann ist er draußen.

Langsam kehrt sich Malve der Freundin zu. Die sitzt, spricht noch immer kein Wort.

»Du bist heute so eigen, Rose Fehlt dir etwas?«

Eine lange, dumpfe Pause. Endlich kommt eine Stimme aus dem Dunkel  so fremd, als wär' es die Stimme einer anderen.

»Er hat sich verlobt.«

»Wer?«

»Dein Cousin. Mit einer walachischen Fürstin Aber, wenn du glaubst, mich schonen zu müssen ...

Es soll wie ein Lachen klingen, doch mit einem Male überschlägt sich die Stimme, und Rose bricht in ein Weinen aus, vor dem sich Malves Schmerz in ihrem Innersten verkriecht  stumm, scheu, wie ein lautlos verendendes Tier.

Nur ihre Hand streicht mit zitternden Fingern immer wieder über den Scheitel der Schluchzenden. »Laß ihn  Laß ihn.«
Was könnte sie sonst sagen?  Hätte sie noch zu sagen?

Es ist derselbe Schmerz und dieselbe Ergebung, an der auch sie wieder stark werden muß.

Endlich geht Rose.

Langsam schreitet Malve an das Fenster zurück. Kaum eine Stunde ist vergangen, seit sie hier gestanden, ahnungslos, noch ein Kind. Nun hat das Leben sie überfallen, mit seiner ganzen Wucht. Das Leben und die Liebe, wie sie der Mann gibt: brutal, selbstherrlich  unverantwortlich.

Sie blickt in die Nacht hinaus, in das Zimmer zurück, streicht, wie sich besinnend, über die schmale Stirne hin.

Ob sie dies alles nicht doch nur geträumt? Des Mannes erweckende Küsse und die Tränen Roses und  und ...

Dort liegt ja noch ihre »Botanik«, und morgen sitzt sie wieder in der Schulbank und lacht mit den anderen. Oder nicht?

Wie gebannt schreitet sie auf das Buch los, dessen weiße Blätter durch das Dunkel schimmern, und bleibt plötzlich stehen  wie gebannt.

Die Frauenkilte hat ihre Kelche geöffnet und blickt sie an: ernst, stumm, fragend, wie mit großen, sehnsuchtsvollen Augen ...

aus : Marie Eugenie delle Grazie, Das Buch des Lebens - Erzählungen und Humoresken, Verlag von Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1914

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