Rosika Schwimmer – Sexualreform in Ungarn
In einem Land, dessen Bevölkerung von sexualethischen Zweifeln so wenig angekränkelt ist, wie wir Ungarn, muss die Aufrollung sexueller Probleme naturgemäss Bestürzung, Unwillen und heftigen Widerstand erregen.
Es ist noch gar nicht lange her, dass ein öffentlicher Vortrag über die Sittlichkeitsfrage unter dem Schutze einer hochwissenschaftlichen Gesellschaft unter falschem Titel eingeschmuggelt werden musste. Adele Schreiber – Berlin, die Vortragende, weiss davon zu erzählen.
Seit diesem Vortrag – in den letzten zwei Jahren – ist es der ungarischen Frauenbewegung aber gelungen, die Sittlichkeitsfrage und alles, was drum und dran hängt, in der vollsten Öffentlichkeit zur offensten Diskussion zu bringen.
»Diskussion« ist eigentlich nicht richtig, denn die Erörterungen in Versammlungssälen und in der Presse schlugen meistens in Geschimpfe, Drohungen über und brachten eine Fülle brutaler Roheit zutage, von der man sich gar keine Vorstellung machen kann.
Mit kühnem Schwung schleuderte der Feministenverein die Brandfackel der sexuellen Probleme in die ungarische Gesellschaft, und jetzt glimmt und brennt es in allen Schichten. Zuerst wurde im März 1906, im Rahmen eines sozialpädagogischen Elternabends, die Frage der geschlechtlichen Aufklärung der Kinder aufs Tapet gebracht.
Dem durch den Verein selbst in die Presse gebrachten Bericht folgte ein Sturm der Entrüstung, als wäre der Menschheit plötzlich und unerwartet ein heiligstes Recht unwiederbringlich geraubt worden.
In der Presse und Gesellschaft tobte und wütete man gegen das »schamlose Gesindel«, das »schon die Kinder mit dem Geifer ihres Schmutzes besudeln will« etc. etc. Als einzige Illustrationsprobe sei hier ein Satz aus der Besprechung eines pädagogischen Blattes über die Aufklärungsbestrebungen angeführt: »Dieses weibliche Zuchtvieh will seine Perversitäten nun schon in die Schule übertragen.«
Der Verein richtete im selben Jahr eine Petition an die Kommune Budapests, in ihren Schulen die geschlechtliche Aufklärung auf Grund des Lischnewskaschen Entwurfes in den Lehrplan aufzunehmen.
Der jammernde Ruf nach der Sittenpolizei zur Unterdrückung der Bewegung kehrt seither in der Presse ständig wieder. Als nun im März 1907 der Verein einen Vortrag Lischneweka über diesen Gegenstand arrangierte, war die öffentliche Meinung so präpariert, dass man den Andrang der Zuhörer polizeilich abweisen musste. Trotz allen Schimpfens war die Frage im Getöse des Kampfes soweit gereift, dass die Unterrichtsbehörde der Kommune Budapest die hauptstädtische Lehrerschaft offiziell aufgefordert hatte, dem »pädagogisch hochwichtigen Vortrage« beizuwohnen. Der Bürgermeister von Budapest sass mit am Vorstandstisch, und der Leiter der hauptstädtischen Unterrichtssektion war auch anwesend.
Unter dem zwingenden Eindruck Lischnewskas eindringlicher, sachlich-würdiger Vortragsweise kamen jene nicht auf ihre Kosten, die sich eine Pikanterie von dem Vortrag versprochen hatten. Der überfüllte Saal war von dem Geist der höchsten Sittlichkeit überwältigt, so dass die stundenlange Diskussion und die Berichterstattung der hauptstädtischen Presse in begeisterter Zustimmung und Anerkennung der sittlichen Forderung vollkommen übereinstimmten. Aber einige Tage später!
Den Zeitungen dürften von den Lesern Missbilligungsschreiben zugekommen sein, denn kurz nachdem ihre Berichterstatter im höchsten Ton der Anerkennung über den Vortrag Lischnewska und die Bestrebungen des Vereins referiert hatten, begannen die Blätter ein Kesseltreiben gegen das von ihnen Gelobte, das seinesgleichen sucht. Monate sind seither vergangen, aber noch immer drischt man wie toll darauf los.
Wenn die Kampagne nicht soviel unendlich Komisches zutage brächte, und wenn wir nicht die ernsten Erfolge und reifenden Früchte unserer Bestrebungen beobachten könnten, hätte uns das unsäglich rohe Getriebe vielleicht zum vorläufigen Verzicht auf die Forderung sexuell-ethischer Erziehungsreformen gezwungen, so aber schöpfen wir aus Humor und Ernst der Lage immer neue Kraft, den Kampf fortzusetzen.
Von stärkster komischer Wirkung ist z. B., dass in der ununterbrochenen Zeitungspolemik der Frage kein einziges Mitglied des Feministenvereins zur Sache geschrieben hat, der Verein selbst ausser zwei Diskussionsversammlungen für Ärzte und Pädagogen und einer Petition an die Kommune um pädagogische Musterkurse für die Lehrerschaft keinerlei öffentliche Schritte getan hat, die Presse aber nicht zu fordern unterlässt, »die Feministen mögen endlich mit der Pertraktation der Aufklärungsfrage aufhören, da man sonst« etc. etc. Der uralte Witz: »Er schreit, schreit er, ich schrei«, in moderner Ausgabe.
Die meisten pädagogischen Körperschaften stellten nun notgedrungen die Frage der geschlechtlichen Aufklärung auch ihrerseits zur Diskussion, und wenn auch bisher nichts Positives geschehen ist, verzeichnen wir es als grossen Fortschritt, dass man der Frage nun doch ins Auge blickt und ihrer Lösung langsam, aber sicher zustrebt.
Recht erfreulich ist, dass die Belletristik, speziell die bei uns sehr entwickelte Novellistik, starke Spuren des lauten Kampfes aufweist, dem wir einige Proben tendenziöser Kunstwerke im besten Sinne des Wortes verdanken. So unangenehm und lästig die unvornehme Hetze gegen die Feministen ist, so sehr beneidet man sie von verschiedenen Seiten darum.
Die vor einem Jahr gegründete Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten beklagt sich z. B. bitter, dass alle ihre Aktionen, u. a. die wahrscheinlich demnächst erfolgreiche zur Anerkennung der Geschlechtskrankheiten als Krankenkassenunterstützungsgrund, sowie verschiedene Vorträge Forels, Blaschkos und ungarischer Fachleute, eine wirklich grossangelegte öffentliche Diskussionsserie über die Prostitutionsfrage, von der Presse total totgeschwiegen wurden, während jede Aktion des Feministenvereins sofort in die Öffentlichkeit übergeht.
Der Feministenverein arrangiert im Februar dieses Jahres einen Vortrag über Mutterschutz und Mutterschafts-Versicherung. Der Verein strebt nicht für sich selbst die Errichtung der notwendigen Institutionen an, sondern er will bloss die Ideen zur Diskussion stellen, damit sie dann von entsprechend organisierten Körperschaften verwirklicht werden.
Die Mutterschutz-Idee wurde dann auch von verschiedenen Seiten aufgegriffen. Leider spielten aber auf allen Seiten nicht ganz selbstlose Motive mit, sodass sich schliesslich drei Parteien um das Vorrecht stritten, einen Verein für Mutterschutz zu gründen. Natürlich fiel die Idee dem Ehrgeiz zum Opfer. Angeblich sollen die ambitiösen Parteien sich im Herbste zu einer Koalition zusammenschliessen und der Verein doch zustande kommen. Bei dem ausgezeichneten Kinderschutzsystem unseres Landes wäre die Durchführung der Mutterschutz-Organisation viel leichter als in anderen europäischen Ländern.
Auch die Prostitutionsfrage wurde durch den Feministenverein diskussionsfähig gemacht. Vor allem schloss sich der Verein der internationalen abolitionistischen Föderation an, und seinem Einfluss ist es auch zuzuschreiben, dass sich die überaus ängstliche Jugendschutzsektion des ungarischen Frauenbundes der Föderation anschloss. Die Sektion veranstaltete im Oktober 1906 einen Vortrag Schirmacher über die Sittlichkeitsfrage, die selbstverständlich heftigsten Widerspruch in der Presse erweckte. Man griff aber nicht etwa den Frauenbund, sondern den – Feministenverein, diesen prächtigen Prügelknaben, an.
Das Fazit aber war immerhin, dass zur Enquete über die Neureglementierung der Budapester Prostitution die Vertreter des Bundes, wie des Feministenvereins zugezogen wurden. Sie vertraten dort den abolitionistischen Standpunkt, ohne mehr als die platonische Anerkennung ihrer persönlichen Tüchtigkeit zu ernten. Die Statuten der Neureglementierung sind mittlerweile vom Stadtrat Budapests angenommen worden.
Der Mangel an handgreiflichen Erfolgen bedeutet aber keineswegs die Erfolglosigkeit der zweijährigen Bewegung. Während vor dieser Zeit die Frage der geschlechtlichen Jugendaufklärung, des Mutterschutzes, der Abolition nicht einmal als Schlagwort bekannt war, sind diese Ideen nun so umsichtig verpflanzt, dass sie in allen Schichten der ungarischen Gesellschaft keimen und, je nach der Beschaffenheit des Bodens, auch spriessen und blühen. Viele tüchtige Mitkämpfer, Ärzte, Universitätsprofessoren, Pädagogen, haben sich uns angeschlossen, eine Literatur der Frage ist entstanden.
Eine positive erfreuliche Neuerung ist, dass das am 1. Juli ins Leben getretene Kranken- und Unfallversicherungsgesetz der industriellen und kommerziellen Arbeiter und Angestellten die Rechtshäftigkeit der unehelichen Kinder der Versicherten feststellt. Von der Gesetzgebung abgelehnt wurde ein Antrag, die gesetzliche Unterstützungspflicht der Wöchnerinnen (vier Wochen) auf eine Woche vor der Niederkunft auszudehnen. Der Antrag wurde in Heiterkeit erstickt. Nun ja, die Herren Landesväter wissen eben nicht, was so eine Niederkunft für die arbeitende Frau bedeutet.
Nicht unerwähnt soll schliesslich bleiben, dass in Budapest neuerdings eine »polizeiliche Verfolgung der Unsittlichkeit« eingeführt wurde, die von Tag zu Tag die schreiendsten Missgriffe ergibt. Etwas, das bisher nur in den seltensten Fällen passierte.
Während man den Schein der Unsittlichkeit verfolgt, wie Peter Schlemihl seinen Schatten, blüht die wirkliche Unsittlichkeit, die Verführung und Schändung kleiner Kinder lustig. Und wird wahrscheinlich solange blühen, solange die Frauen aus allen Ämtern ausgeschlossen sind, in denen Sittengesetze auf Grund der Herrenmoral geschaffen werden.
Die Neue Generation, Herausgegegeben von Dr. Helene Stöcker, Publikationsorgan des Bundes für Mutterschutz, Oesterheld & Co, Verlag, Berlin, 4. Jahrgang, Heft 2, Februar, 1908, S. 50 ff.
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