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Samstag, 19. Mai 2012

Lafcadio Hearn – Die Geisha.

Onsen geisha Matsuei

Lafcadio Hearn – Die Geisha.

aus: Lafcadio Hearn, Izumo, Übertragen von Berta Franzos, Literarische Anstalt Rütten & Loening, Frankfurt am Main, 1907, S. 118ff.


Es gibt nichts Stilleres als den Beginn eines japanischen Banketts, und — mit Ausnahme eines Eingeborenen — könnte sich niemand, der einem solchen zum erstenmal beiwohnt, einen Begriff von seinem tumultuösen Ende machen.
Geräuschlos treten die geputzten Gäste ein und lassen sich schweigend auf ihren Sitzpolstern nieder. Mädchen, deren nackte Füße lautlos durch das Zimmer gleiten, stellen das lackierte Service auf die Matten vor sie hin. Eine Zeitlang ist alles ein bloßes Hin und Her, ein Wogen und Lächeln wie im Traum. Auch von draußen dringt wohl kaum ein Laut herein, da ein Bankett-Haus gewöhnlich durch einen großen Garten von der Straße getrennt ist. Endlich bricht der Zeremonienmeister, der Gastgeber oder der Arrangeur das allgemeine Schweigen mit der üblichen Formel: »O-somatsu de gozarimasu ga! — dōzo o-hashi!«, worauf alle Anwesenden sich schweigend verneigen, ihre »Hashis« (Eßstäbchen) ergreifen und zu essen beginnen. Aber die geschickt gehand­habten »Hashis« machen auch kein Geräusch. Die Mädchen schenken jedem Gast heißen Sake in seine Schale, und erst nachdem mehrere Schüsseln und Schalen geleert worden, lösen sich die Zungen ein wenig. Dann treten unversehens einige junge Mädchen mit leisem Lachen ein, grüßen in der üblichen Weise, indem sie sich tief zur Erde neigen, gleiten in den offenen Raum zwischen den Reihen der Gäste und beginnen den Wein mit einer zier­lichen Anmut und Geschicklichkeit zu kredenzen, deren ein gewöhnliches Mädchen nicht fähig wäre.
Sie sind hübsch, in kostbare Seidengewänder ge­kleidet, wie Königinnen gegürtet, und ihr schon frisiertes Haar ist mit künstlichen Blumen, mit wun­derbaren Kämmen und Nadeln und seltsamem goldenem Zierrat geschmückt. Sie begrüßen den Fremden wie einen alten Bekannten, sie scherzen und lachen und stoßen drollige kleine Laute aus. Es sind die für das Bankett engagierten Geishas oder Tänzerinnen.1
Samisen2 ertönen — die Tänzerinnen begeben sich in einen freien Raum im Hintergrund der Banketthalle, die immer groß genug ist, um mehr Gäste zu fassen, als sich bei gewöhnlichen Anlässen zu versammeln pflegen. Einige bilden unter der Führung einer Frau von mittlerem Alter das Orchester; dieses besteht aus mehreren Samisen und einer niedlichen, von einem Kind geschlagenen Trommel. Andere, entweder einzeln oder in Paaren, führen den Tanz aus. Dieser kann schnell und fröhlich sein und auch bloß aus anmutigen Posen bestehen, — zwei Mädchen tanzen zusammen mit einer solchen Gleichzeitigkeit der Schritte und Gesten, wie sie nur jahrelange Übung erzielen kann. Aber weit häufiger ist es mehr ein Agieren, als das, was wir Abendländer tanzen nennen würden. Ein Agieren, begleitet von seltsamen Bewegungen der Ärmel und Fächer, und mit einem Augen- und Mienenspiel, süß, zart, be­herrscht, ganz und gar orientalisch. Die Geishas kennen auch wollüstigere Tänze, aber bei gewöhn­lichen Anlässen und vor einem gewählten Publikum veranschaulichen sie schöne, alte japanische Über­lieferungen, wie die Legende von dem Fischerknaben Urashima, dem Geliebten der Tochter des Meer­gottes, und dazwischen singen sie altchinesische Lieder, die schlichte menschliche Empfindungen mit köstlicher Lebhaftigkeit in wenigen Worten schildern. Und immer füllen sie die Becher von neuem mit Wein — dem warmen, blaßgelben, be­täubenden Wein, der wohlig durch die Adern rieselt, uns mit traumhaftem Schleier umwebend, der das Alltägliche wundersam, die Geishas zu Paradieses­mädchen macht und die Welt weit wonniger er­scheinen läßt, als es nach der gewöhnlichen Ordnung der Dinge möglich wäre.
Das anfänglich so schweigsame Bankett steigert sich allgemach zu einem lustigen Tumult. Die Reihen lösen sich,: es bilden sich Gruppen, und lachend und plaudernd gehen die Geishas von Gruppe zu Gruppe, immer Sake einschenkend, die geleerten Becher wieder füllend, die mit tiefen Ver­beugungen immer von neuem entgegengenommen und gewechselt werden.3 Männer stimmen alte Sa­murai-Gesänge und altchinesische Lieder an, ein oder zwei tanzen sogar. Die Samisen intonieren die lebhafte Melodie »Kompira fune fune«, eine Geisha schürzt ihr Kleid bis zu den Knien auf. Beim Klange der Musik beginnt die Tänzerin in hurtigem Lauf die Figur 8 zu beschreiben, und ein junger Mann mit einer Sakeflasche und einem Becher be­schreibt dieselbe Figur. Treffen dann die beiden in einer Linie zusammen, so muß der, durch dessen Schuld das Zusammentreffen geschah, einen Becher Sake leeren. Die Musik wird rascher und rascher und der Lauf der Tänzer schneller und schneller, denn sie müssen mit der Musik Takt halten. Und die Geisha gewinnt fast immer. In einem andern Teil der Halle spielen Gäste und Geishas »Ken«. Während sie spielen, singen sie und blicken sich ins Gesicht, klatschen in die Hände und schnellen in kleinen Zwischenräumen mit leisem Gekicher ihre Finger in die Luft Und die Samisen halten Takt.
Chotto, — don-don!
O-tagai da ne;
Chotto, — don-don!
Oidemashita ne;
Chotto, — don-don!
Shimaimashita ne.

* * *

Mit einer Geisha Ken zu spielen, erfordert einen kühlen Kopf, ein gutes Auge und sehr viel Übung. Von Kindheit an geschult, alle Arten von Ken zu spielen — und es gibt deren viele — verliert sie gewöhnlich nur aus Artigkeit — wenn sie über­haupt verliert.
Die Zeichen eines gewöhnlichen Ken sind ein Fuchs, ein Mann und eine Flinte. Macht die Geisha das Zeichen der Flinte, muß allsogleich und genau im Takte mit der Musik, das Zeichen des Fuchses folgen, der die Flinte nicht handhaben kann. Denn machst du das Zeichen des Mannes, so wird sie mit dem Zeichen des Fuchses antworten, der den Mann überlisten kann, und du verlierst. Und macht sie das Zeichen des Fuchses zuerst, dann müßtest du das Zeichen der Flinte machen, mit der der Fuchs getötet werden kann. Aber während alledem mußt du ihre glänzenden Augen und ihre geschmeidigen Hände ansehen, — sie sind hübsch — und läßt du dich auch nur für den Bruchteil einer Sekunde hinreißen, daran zu denken, wie hübsch sie sind, bist du berückt und besiegt.
Aber all dieser scheinbaren Kameradschaftlichkeit ungeachtet wird bei einem japanischen Bankett ein gewisses strenges Dekorum zwischen Geishas und Gästen gewahrt. Wie erregt durch den Wein ein Gast auch geworden sein mag, er wird niemals versuchen, ein Mädchen zu liebkosen, er wird nie außer acht lassen, daß sie beim Bankett nur wie eine menschliche Blume angesehen werden soll, an deren Anblick man sich wohl erfreuen, die man aber nicht berühren darf. »Die Familiarität, die sich fremde Touristen oft in Japan mit Geishas oder Auf­wärterinnen erlauben, ist — obgleich mit lächelnder Langmut geduldet, in Wahrheit sehr verpönt, und wird von den Eingeborenen als ausgesprochen vulgär angesehen.

* * *

Eine Zeitlang nimmt die Fröhlichkeit immer mehr zu, aber gegen Mitternacht schleicht sich ein Gast nach dem andern unbemerkt fort. Dann verstummt das Getöse allmählich, die Musik hält inne, und schließlich, nachdem die Geishas mit dem lachenden Rufe »Sayōnara« die letzten Gäste zur Türe hinausgeleitet haben, dürfen sie sich endlich ruhig miteinander hinsetzen, um in der verödeten Halle ihr langes Fasten zu brechen.
Dies ist die Rolle der Geisha. Aber, was ist ihr Geheimnis? Wie sind ihre Gedanken, ihre Empfindungen, ihr innerstes Selbst? Was ist ihr wirk­liches Dasein, fern von dem nächtlichen Festglanz der Banketthallen, fern von der Illusion, die der Weindunst um sie webt? Ist sie immer so mut­willig, wie sie scheint, während ihre Stimme mit spöttischer Süßigkeit die Worte des alten Liedes singt:

Kimi to neyaru ka, go sen goku tont ka?
Nanno go sen goku kimi to neyo.4

Oder können wir glauben, sie wäre fähig, die leidenschaftliche Verheißung zu erfüllen, die sie so köstlich verkündet:

Omae shindara tera e wa yaranu!
Yaite ko-ni shite sake de nomu.5

Nun, was das betrifft, so sagt mir mein Freund, O-Kama aus Osaka habe das Liedchen erst im vorigen Jahre wahr gemacht, denn nachdem sie die Asche ihres Geliebten vom Holzstoß eingesammelt hatte, mischte sie sie mit Sake und trank sie bei einem Bankett in Gegenwart vieler Gäste. In Gegen­wart vieler Gäste! Ach, um die Romantik!
In der Wohnung, die eine Gruppe Geishas innehat, befindet sich immer eine seltsame Figur in der Nische. Manchmal ist sie aus Ton, seltener aus Gold, am häufigsten aus Porzellan. Man verrichtet seine Andacht vor ihr und bringt ihr Gaben dar — Süßigkeiten, Reis, Brot und Wein; Weihrauch glimmt davor und eine Lampe brennt darunter. Es ist das Bild eines aufrecht stehenden Kätzchens, das die eine Pfote wie einladend ausstreckt; daher sein Name »das winkende Kätzchen«.6 Es ist der Genius loci, es bringt Glück, den Schutz der Reichen, die Gunst der Gastgeber. Nun, diejenigen, die die Seele der Geisha kennen, bestätigen, daß das Bild ein Symbol ihres Selbst ist. Spielerisch und hübsch, sanft und jung, biegsam und liebkosend, schmiegsam und grau­sam, wie ein verzehrendes Feuer.
Sogar Schlimmeres als dies hat man von ihr gesagt: In ihrem Schatten schreitet der Gott der Armut, und die Füchsinnen sind ihre Schwestern; sie ist das Verderben der Jugend, die Vergeuderin des Wohlstandes, die Zerstörerin der Familien, sie kennt die Liebe nur als den Quell der Torheiten, die ihr Gewinn sind, und bereichert sich auf Kosten der Männer, die sie in den Tod getrieben hat — sie ist die abgefeimteste aller hübschen Heuch­lerinnen, die unersättlichste aller Käuflichen, die gefährlichste aller Glücksjägerinnen, die erbarmungs­loseste aller Geliebten. Dies kann nicht alles wahr sein — aber so viel ist wahr, daß die Geisha ihrer Beschaffenheit nach gleich der Katze ein Raubtier von Beruf ist. Es gibt freilich viele liebliche Kätz­chen — ebensowohl muß es auch eine Menge entzückender Geishas geben.
Die Geisha ist nur das, wozu sie der törichte menschliche Wunsch nach der Illusion einer Liebe voll Reiz und Genuß, aber ohne Skrupeln und Ver­antwortlichkeit gemacht hat, und darum hat man sie gelehrt, außer mit dem »Ken« auch noch mit Herzen zu spielen. Nun ist es aber ein ewiges Gesetz in diesem irdischen Jammertal, daß man mit allen Dingen spielen kann, außer mit dreien, und diese sind: Liebe, Leben und Tod. Dies haben die Götter sich selbst vorbehalten, weil sonst niemand damit spielen kann, ohne Unheil anzurichten. Mit Geishas irgend ein ernsteres Spiel zu spielen als Ken oder etwa Go, mißfällt deshalb den Göttern.

* * *

Das Mädchen beginnt seine Laufbahn als Sklavin, — ein hübsches Kind, blutarmen Eltern abgekauft auf Grund eines Kontraktes, nach dem ihre Leistungen von dem Käufer 18, 20, ja selbst 25 Jahre lang beansprucht werden können. Sie wird in einem nur von Geishas bewohnten Hause ge­nährt, gekleidet und erzogen und verbringt den Rest ihrer Kindheit unter strenger Zucht. Man unterweist sie in guter Lebensart, in Anmut, höflicher Rede, sie hat täglich Tanzstunde, und muß eine Menge von Liedern mit den Melodien auswendig lernen. Auch Spiele muß sie lernen, das Servieren bei Banketten und Hochzeiten, die Kunst, sich an­zuziehen und schön auszusehen. Jede physische An­lage, die sie besitzt, wird sorglich ausgebildet. Dann folgt der Unterricht in verschiedenen Musikinstru­menten: zuerst kommt die kleine Trommel (die Tsu-zumi), deren Behandlung sehr viel Übung erfordert. Dann lernt sie ein wenig auf der Samisen spielen mit einem Plektrum von Schildpatt oder Elfenbein. Mit acht oder neun Jahren wirkt sie bei Banketten mit — hauptsächlich als Trommelschlägerin. Sie ist dann das reizendste kleine Geschöpfchen, das man sich denken kann, und versteht schon zwischen zwei Schlägen auf ihrer Trommel deine Weinschale mit einem einzigen Neigen der Flasche vollzuschenken, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten.
Später wird ihre Lehrzeit grausamer. Ihre Stimme mag biegsam genug sein, aber sie entbehrt vielleicht der erforderlichen Stärke. In den eisigsten Winternächten muß sie daher auf das Dach ihres Wohnhauses steigen und dort singen und spielen, bis ihre Hände erstarren und die Stimme in ihrer Kehle erlischt. Das angestrebte Resultat ist eine fürchterliche Erkältung. Nach einer Periode heiseren Flüsterns erstarkt die Stimme und verändert ihre Klangfarbe. Nun erst ist sie reif, eine öffentliche Sängerin zu werden.
In dieser Eigenschaft tritt sie gewöhnlich im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren zum ersten Male auf. Ist sie Hübsch und gewandt, so werden ihre Dienste häufig verlangt, ihre Leistungen gut bezahlt (wohl zwanzig bis fünfundzwanzig Sen für die Stunde). Dann erst fangen ihre Käufer an, sich für all die für ihre Ausbildung aufgewendeten Kosten und Mühen schadlos zu halten. Und sie sind selten geneigt, sich großmütig zu erweisen. Auf Jahre hinaus legen sie auf alles, was sie einnimmt, Beschlag — sie besitzt nichts — nicht einmal ihre Kleider.
Mit siebzehn oder achtzehn Jahren hat sie ihren künstlerischen Ruf begründet. Sie hat vielen hundert Unterhaltungen beigewohnt und kennt alle wich­tigen Persönlichkeiten ihrer Vaterstadt — den Charakter jedes einzelnen, die Geschichte eines jeden. Ihr Leben war fast ausschließlich ein Nachtleben — selten nur hat sie den Sonnenaufgang gesehen, seit­dem sie Tänzerin geworden ist. Sie hat gelernt, Wein zu trinken, ohne jemals den Kopf zu verlieren; und dann auch, wenn es darauf ankommt, sieben und acht Stunden zu fasten. Sie hat viele Lieb­haber gehabt — denn in gewissem Maße steht es ihr frei, jedem zuzulächeln, der ihr gefällt, aber man hat sie vor allem gelehrt, ihre Zauberkraft zum eigenen Vorteil auszunutzen. Sie hofft, jemanden zu finden, der erbötig und imstande sein wird, ihre Freiheit zu erkaufen, — dieser Jemand würde je­doch sicherlich viele neue und ausgezeichnete Wahr­heiten in jenen buddhistischen Texten entdecken, die von der Torheit der Liebe und der Wandelbar­keit aller menschlichen Beziehungen erzählen.
Auf diesem Punkt ihrer Laufbahn ist es wohlgetan, die Geisha zu verlassen, denn späterhin mag sich ihre Geschichte unerfreulich gestalten, es sei denn, daß sie jung stirbt. Geschieht dies, wird ihr die Totenfeier ihrer Klasse zuteil, und die Erinnerung an sie wird durch verschiedene seltsame Riten be­wahrt werden.

* * *

Schlenderst du gelegentlich zu nächtlicher Stunde durch japanische Straßen, so mag es geschehen, daß seltsame Musiklaute an dein Ohr schlagen — Samisengeklimper, vermischt mit schrillem Gesang von Mädchenstimmen ertönt aus dem großen Tor eines Buddha-Tempels, — was dir als ein seltsames Zusammentreffen erscheinen mag. Der tiefe Hof ist von einer lauschenden Zuschauermenge erfüllt. Hast du dich dann durch das Gewühl auf der Tempelstiege durchgedrängt, so siehst du im Innern auf den Matten zwei Geishas sitzen, die spielen und singen, während eine dritte vor einem kleinen Tischchen tanzt. Auf dem Tisch steht ein Ihai (ein Sterbetäfelchen), und vor dem Täfel­chen brennt eine kleine Lampe, und Weihrauch entströmt einer kleinen Bronzeschale. Eine kleine Mahlzeit steht davor — Früchte und Zuckerwerk —, eine Mahlzeit, wie man sie bei festlichen Gelegen­heiten den Toten darzubringen pflegt. Du erfährst, daß das Kaimyō auf dem Täfelchen das einer Geisha ist, und daß die Genossinnen der Verblichenen sich an bestimmten Tagen im Tempel versammeln, um ihren Geist mit Gesängen und Tänzen zu erheitern. Jeder, dem es beliebt, darf dieser Zeremonie beiwohnen.

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Aber die Tänzerinnen der alten Zeit waren nicht wie die Geishas von heutzutage. Manche von ihnen nannte man Shirabyōshi, und ihre Herzen waren nicht allzu hart.
Sie waren schön — sie trugen seltsam geformte goldstrotzende Hauben und prächtige kostbare Ge­wänder und tanzten mit Schwertern in den Palästen von Fürsten.
Und von einer ist eine alte Geschichte überliefert, die wohl wert ist, hier verzeichnet zu werden.
In früheren Zeiten war es in Japan für junge Künstler Brauch und es ist es noch heute, die ver­schiedenen Provinzen des Kaiserreiches zu Fuß zu durchstreifen, um die berühmten Landschaftsszene­rien kennen zu lernen und zu skizzieren und die Kunstgegenstände in den buddhistischen Tempeln zu studieren, von denen viele in herrlichen Gegenden stehen.
Solchen Wanderungen danken wir hauptsächlich jene wundervollen Landschaftsbilderbücher und Stu­dien aus dem Leben, die jetzt so selten geworden sind, und die uns besser als irgend etwas sonst zeigen, daß nur ein Japaner japanische Landschaften malen kann. Hat man sich mit der Art und Weise, wie sie ihre eigene Natur interpretieren, vertraut gemacht, so werden einem fremde Versuche auf demselben Gebiete seltsam flach und seelenlos er­scheinen. Der fremde Künstler gibt realistische Spiegelbilder dessen, was er sieht. Aber er gibt nicht mehr. Der japanische Künstler gibt das, was er fühlt, — die Stimmung einer Jahreszeit, die genaue Empfindung einer Stunde und eines Ortes; seinem Werk wohnt eine suggestive Kraft inne, die in der abendländischen Kunst selten zu finden ist. Der abendländische Maler gibt minutiöse Details. Aber sein orientalischer Bruder unterdrückt oder idealisiert das Detail, — taucht die Fernen in Nebel, um­schlingt seine Landschaften mit Wolken, gestaltet seine Erfahrung zu einer Erinnerung, in der nur das Seltsame und Schöne mit seinen Empfindungen fortlebt. Er übertrifft die Phantasie, stachelt sie an, schärft gleichsam ihr Verlangen nach dem Reiz, der nur blitzartig angedeutet wurde. Aber in solchen Andeutungen vermag er wie durch Magie das Gefühl einer Zeit, den Charakter eines Ortes auf dich zu übertragen. Er ist mehr ein Maler der Erinnerungen und Empfindungen, als der scharf umrissenen Realitäten, — und darin liegt das Geheimnis seiner erstaunlichen Macht, einer Macht, die nur von dem ganz gewürdigt werden kann, der die Szenerien seiner Inspirationen aus eigener Anschauung kennt. Vor allem ist er unpersönlich, — seine menschlichen Figuren sind aller Individualität entkleidet, aber sie haben un­vergleichlichen Wert als typische Verkörperungen des Charakteristischen einer Klasse: der kindischen Neu­gierde des Bauern, mädchenhafter Schüchternheit, der Zaubergewalt der Joro, des selbstbewußten Samurai, der drolligen, unbeholfenen Kinderschönheit, der re­signierten Milde des Alters. Reisen und Beobach­tung waren die Einflüsse, die diese Kunst ent­wickelt haben, — sie war nie eine Atelierpflanze.

* * *

Vor vielen Jahren machte ein junger Kunst­schüler eine Fußwanderung über die Berge von Kyōto nach Yedo. Dazumal gab es nur sehr wenige und schlechte Straßen, und das Reisen war im Ver­gleich mit heute so mühselig, daß ein Sprichwort im Umlauf war: »Kawai ko wa tabi wo sase« (ein verzogenes Kind sollte man eine Reise tun lassen). Aber das Land selbst war ebenso wie heute. Da waren dieselben Zedern- und Föhrenwälder, dieselben Bambushaine, dieselben Dörfer mit den hochgiebeligen Binsendächern, dieselben terrassenförmig aufsteigenden Reisfelder mit den verstreuten großen gelben Strohhüten der Bauern, die sich zu Boden neigten. Dieselben Jizōstatuen lächelten am Weg­rain auf die Pilger hernieder, die zu den Tempeln wallten. Und damals wie jetzt konnte man an Sommertagen nackte braune Kinder sich in den seichten Flüssen tummeln, und alle Flüsse der Sonne zulachen sehen.
Der junge Künstler nun war kein Kawai ko: er war schon sehr viel gereist, gegen Strapazen und harte Nachtlager abgehärtet und Meister in der Kunst, sich in jede Lage zu schicken. Auf dieser Reise aber fand er sich eines Abends nach Sonnenuntergang in eine Gegend verschlagen, die so welt­fern und abgetrennt von jeder Kultur schien, daß er glaubte, alle Hoffnung auf Unterkunft aufgeben zu müssen. Bei seinem Versuche, den Weg über einen Bergabhang abzuschneiden, hatte er die Richtung verloren.
Es war eine mondlose Nacht, und die Föhrenschatten verdunkelten alles ringsum noch mehr. Die Gegend, in die er verschlagen war, schien voll­kommen unwirtlich. Kein Laut war vernehmbar, nur das Rauschen des Windes in den Föhrennadeln und das unaufhörliche Schellengeläute der Glöckcheninsekten. Er stolperte weiter, in der Hoffnung, an irgend ein Flußufer zu kommen, an dem er ent­langgehend eine Ansiedelung erreichen könnte. Plötzlich kreuzte ein Strom seinen Weg; aber er sah, daß seine reißenden Wasser sich zwischen Felsen in eine Bergschlucht ergossen. So am weiteren Vordringen gehindert, beschloß er, den nächsten Gipfel zu erklettern, um von dort viel­leicht irgend ein Zeichen menschlichen Lebens er­spähen zu können. Aber am Ziele angelangt, sah er nichts weiter als wiederum Hügelmassen.
Schon hatte er sich darein ergeben, die Nacht unter freiem Himmel zubringen zu müssen, da ge­wahrte er in einiger Entfernung unten am Hügel­abhang einen vereinzelten gelben Lichtschimmer, der offenbar aus irgend einer Heimstätte kam. Er ging dem Lichte nach und entdeckte bald eine kleine Hütte, — offenbar einen Bauernhof. Das Licht, das er gesehen hatte, drang durch eine Spalte der geschlossenen Sturmläden. Er beschleunigte seine Schritte und klopfte an die Eingangspforte.
Erst nachdem er mehrmals geklopft und ge­rufen hatte, vernahm er endlich ein Lebenszeichen von innen, und dann fragte eine Frauenstimme nach seinem Begehr. Die Stimme war ungewöhnlich wohllautend, und die Sprache der unsichtbaren Fragerin überraschte ihn, denn sie sprach in dem ver­feinerten Idiom der Hauptstadt. Er sagte, er sei ein fahrender Kunstschüler, der sich in den Bergen verirrt habe, und womöglich hier Unterkunft für die Nacht und einen kleinen Imbiß zu erhalten wünschte, aber wenn solches hier nicht möglich wäre, würde er für die Auskunft, wie er das nächste Dorf er­reichen könnte, sehr dankbar sein; und, fügte er hinzu, er sei in der Lage, die Dienste eines Führers zu entlohnen. Die Frauenstimme stellte ihrerseits verschiedene Fragen, die großes Erstaunen darüber ausdrückten, daß jemand von der angegebenen Rich­tung aus das Haus habe auffinden können. Aber offenbar zerstreuten seine Antworten jedes Miß­trauen, denn die Herrin des Hauses sagte ent­schlossen: »Ich komme gleich — es wäre schwer für Euch, noch heute ein Dorf zu erreichen, und der Pfad ist gefährlich.« Nach einer kurzen Pause wurde die Sturmtüre zurückgeschoben, und eine Frau erschien mit einer Papierlaterne, die sie so emporhielt, daß ihr Licht auf das Antlitz des Fremden fiel, während ihr eigenes im Schatten blieb. Sie musterte ihn schweigend und sagte kurz: »Wartet, ich will Wasser bringen.« Sie holte ein Wasserbecken, stellte es auf die Türschwelle und bot dem Gaste ein Handtuch. Er streifte seine Sandalen ab, wusch den Reisestaub von seinen Füßen und wurde dann in ein nettes Zimmer geführt, das den ganzen Innenraum einzunehmen schien, mit Ausnahme eines kleinen abgegrenzten Raumes im Hintergrund, der als Küche diente. Ein baumwollener Zabuton wurde vor ihm ausgebreitet und ein Feuerbecken vor ihn hingestellt.
Da erst hatte er Gelegenheit, seine Wirtin anzusehen, und er war von der Schönheit ihrer Züge be­troffen. Sie mochte wohl drei oder vier Jahre älter sein als er selbst, prangte aber in holdester Jugend­blüte, — sicherlich war sie kein Landmädchen. Mit derselben süßen Stimme wie vorher sagte sie zu ihm: »Ich bin jetzt allein und empfange hier niemals Gäste. Aber es wäre gefährlich für Euch, noch heute Eure Reise fortzusetzen. Wohl sind einige Bauern­häuser in der Nachbarschaft, aber Ihr könnt den Weg zu ihnen im Dunkel und ohne Führer nicht finden. So ist es also das beste, Ihr bleibt bis morgen hier. Ihr werdet es freilich nicht behaglich haben, aber ein Bett kann ich Euch immerhin bieten. Gewiß habt Ihr auch Hunger, aber leider sind nur einige Shōjin-ryōri7 da und nicht die allerbesten, — Ihr müßt eben vorlieb nehmen.«
Dem müden und hungrigen Reisenden war das freundliche Anerbieten hochwillkommen. Die junge Frau entzündete ein kleines Feuer, richtete schwei­gend einige Schüsseln an: gedämpfte Na-Blätter, ein wenig Aburage, etwas Kampyo und eine Schüssel groben Reis, — und setzte das Mahl mit einer Ent­schuldigung wegen seiner frugalen Beschaffenheit vor ihn hin. Aber während er aß, sprach sie kaum ein Wort, und ihre zurückhaltende Art machte ihn be­fangen. Da sie die wenigen Fragen, die er zu stellen wagte, nur mit einem leichten Kopfneigen oder ein­silbig beantwortete, verstummte auch er bald.
Indessen war es ihm nicht entgangen, daß das kleine Haus spiegelblank war und die Gefäße, in denen die Speisen für ihn aufgetragen wurden, in makelloser Reinheit glänzten. Die wenigen einfachen Gegenstände in dem Gemach waren hübsch, die Fusuma des Oshiire und der Zendana8 waren zwar bloß aus weißem Papier, aber mit großen, wunder­bar gemalten chinesischen Schriftzeichen dekoriert; die dem Gesetz dieser Dekoration entsprechend, die Lieblingsthemen der Dichter und Künstler darstellten:
Frühlingsblumen, Berg und Meer, Sommerregen, Himmel und Sterne, Herbstmond, Flußwasser und Herbstbrise. Auf einer Seite des Zimmers stand eine Art niedrigen Altars mit einem Butsudan, durch dessen winzige, lackierte, geöffnete Türen man im Innern ein Sterbetäfelchen sah, vor dem zwischen Feldblumen ein Lämpchen brannte. Über diesem Hausaltar hing ein Bild von ungewöhnlichem Wert, die Gnadengöttin darstellend, mit dem Mond als Aureole.
Nachdem der Schüler sein kleines Mahl beendet hatte, sagte die junge Frau: »Ich kann Euch kein gutes Bett anbieten, und es ist auch nur ein Moskito-Vorhang aus Papier vorhanden. Das Bett und den Vorhang benütze ich sonst selbst, aber heute nacht habe ich vielerlei zu tun und werde keine Zeit zum Schlafen haben. Ich bitte Euch daher, zu versuchen, es Euch so bequem zu machen, als es eben geht.«
Er begriff, daß sie aus irgend einem seltsamen Grunde ganz allein war und ihm unter einem freund­lichen Vorwand ihr einziges Bett überlassen wollte. Er verwahrte sich eifrig gegen ein solches Übermaß von Gastfreundschaft und versicherte ihr, daß er überall auf dem Boden ebenso gut schlafen könnte und daß die Moskitos ihn nicht im mindesten genieren würden. Aber sie erwiderte im Tone einer älteren Schwester, daß er sich ihren Wünschen fügen möge. Sie habe wirklich etwas zu tun, es mache ihr gar keine Ungelegenheiten, und sie erwarte von seiner Ritterlichkeit, daß er sie gewähren lasse, wie es ihr am besten dünkte. Nun konnte er sich nicht länger weigern, da bloß ein Zimmer vorhanden war. Sie breitete die Matratze auf den Boden, holte ein Holzkissen herbei, hängte einen Papier-Moskito-Vorhang auf, stellte einen großen Schirm auf der Bettseite gegen den Butsudan auf und wünschte ihm dann in einer Weise gute Nacht, die deutlich ihren Wunsch verriet, er möchte sich gleich zurückziehen. Dies tat er auch, aber nicht ohne Gewissensbisse zu empfinden bei dem Ge­danken an alle die Mühe und Unruhe, die er ihr, wenn auch wider Willen, verursacht hatte.

* * *

So sehr es dem jungen Reisenden widerstrebte, eine Freundlichkeit anzunehmen, die das Opfer der Nachtruhe seiner Wirtin notwendig machte, so konnte er sich doch eines unsagbaren Wohlgefühles nicht erwehren, als er seine Glieder ausstreckte. Er hatte seinen Kopf auch kaum auf das Polster gelegt, als der Schlaf ihn schon übermannte und alle Be­denken verscheuchte.
Es schien jedoch nur eine kleine Weile vergangen zu sein, als er durch ein seltsames Geräusch er­wachte. Es war sicherlich das Geräusch von raschen erregten Schritten. Da durchfuhr ihn der Gedanke, daß vielleicht Räuber in das Haus gedrungen sein könnten. Er für sein Teil hatte wenig zu fürchten, denn er hatte wenig zu verlieren. Seine Angst galt nur der liebenswürdigen Frau, die ihm Gastfreund­schaft gewährt hatte.
Auf jeder Seite des Papier-Moskito-Vorhangs war ein kleines braunes, viereckiges Netzstückchen eingefügt, wie ein kleines Guckloch, und er mühte sich, durch eines derselben hinauszulugen. Aber der hohe Schirm stand zwischen ihm und dem, was möglicherweise vor sich ging. Schon wollte er rufen, aber dieser Impuls wurde durch das Be­denken unterdrückt, daß es im Falle wirklicher Ge­fahr zugleich nutzlos und unklug sein würde, seine Anwesenheit zu verraten, ehe er sich über die Sach­lage klar geworden war. Das Geräusch, das ihn auf­geschreckt hatte, dauerte fort und wurde immer ge­heimnisvoller. Er entschloß sich also, der Gefahr entgegenzugehen und, wenn nötig, sein Leben zur Verteidigung seiner Wirtin zu wagen. Hastig seine Gewänder emporraffend, schlüpfte er unter dem Pa­piervorhang hervor und kroch bis an den äußersten Rand des Schirmes, um zu spähen. Was er sah, ließ ihn aufs höchste erstaunen.
Vor dem erleuchteten Butsudan, — prächtig angetan mit golddurchwirkten Gewändern, tanzte das junge Weib ganz allein. Ihr Kostüm erkannte er als das einer Shirabyōshi, obwohl es weit reicher war, als er es je bei einer berufsmäßigen Tänzerin gesehen hatte. Wundersam durch diese Kleider­pracht gehoben, schien ihre Schönheit in dieser geisterhaften Stunde und Umgebung fast überirdisch. Aber noch wundersamer dünkte ihm ihr Tanz. Einen Augenblick fühlte er sich von unheimlichen Zweifeln überkommen, — die abergläubischen Vor­stellungen der Bauern, die Legenden von Fuchs­frauen schossen ihm durch den Sinn, — aber der Anblick des buddhistischen Altars, des heiligen Bildes verscheuchte die Anwandlung, und er schämte sich seiner Torheit. Gleichzeitig wurde er sich aber auch bewußt, daß er etwas beobachte, dessen An­blick die junge Frau ihm nicht gewähren wollte, und daß es seine Pflicht als Gast war, sich allsogleich wieder hinter den Schirm zurückzuziehen. Aber das Schauspiel bannte ihn. Er fühlte mit einer Freude, die nicht geringer war als sein Staunen, daß er die vollkommenste Tänzerin vor sich hatte, die er je ge­sehen, und je mehr er schaute, desto mehr bestrickte und fesselte ihn der Zauber ihrer Anmut.
Plötzlich hielt sie inne, mit wogender Brust, und indem sie sich beim Raffen des Überkleides zurück­wendete, fuhr sie heftig betroffen zusammen, als ihre Augen den seinigen begegneten. Er erschöpfte sich in Entschuldigungen, — erzählte ihr, wie er durch plötzliches Fußgetrippel aus dem Schlaf geschreckt, in Unruhe versetzt worden sei, haupt­sächlich ihrethalben wegen der späten Nachtstunde und der einsamen Lage des Hauses. Dann gestand er seine Überraschung über das, was er gesehen, und sprach davon, wie ihn das Schauspiel ge­fesselt habe. »Ich bitte Euch, meine Neugierde zu verzeihen,« fuhr er fort, »denn ich kann mir nicht erklären, wer Ihr seid und auf welche Weise Ihr eine so wunderbare Tänzerin werden konntet. Ich habe alle Tänzerinnen von Saikyō gesehen, aber unter den allergefeiertsten in dieser Kunst ist Euch keine gleichgekommen. Und von dem Moment, da ich Euch zuzusehen begann, waren meine Augen wie gebannt, und ich konnte sie nicht mehr ab­wenden.«
Anfänglich schien sie ungehalten, aber im Verlauf seiner Rede veränderte sich ihr Gesichtsaus­druck, sie lächelte und ließ sich neben ihm nieder. »Nein, ich bin Euch nicht böse,« sagte sie, »es tut mir nur leid, daß Ihr mir zugesehen habt; denn sicherlich mußtet Ihr mich für verrückt halten, als Ihr mich so allein herumtanzen sähet. Und nun muß ich Euch die Bedeutung dessen erklären, was Ihr gesehen habt.«
Und so erzählte sie also ihre Geschichte. Er entsann sich, als Knabe ihren Namen gehört zu haben, — ihren Berufsnamen, den der allerberühmtesten Shirabyōshi, des Lieblings der Hauptstadt, die im Zenit ihrer Schönheit und ihres Ruhmes plötzlich vom Schauplatz verschwand; niemand wußte, warum und wohin. Sie ließ Wohlstand und Ruhm im Stich und entfloh mit einem Jüngling, der sie liebte. Er war arm, aber ihre gemeinsamen Mittel genügten für ein schlichtes glückliches Leben auf dem Lande. Sie erbauten sich ein kleines Häuschen in den Bergen, und dort verbrachten sie einige Jahre in ungetrübtem Glück, nur füreinander lebend.
Er betete sie an. Sein größtes Vergnügen war, sie tanzen zu sehen. Jeden Abend spielte er irgend eine Lieblingsmelodie, zu der sie für ihn tanzte. Aber während eines sehr kalten Winters erkrankte er und starb trotz ihrer zärtlichen Pflege. Seitdem hatte sie ganz einsam nur ihren Erinnerungen ge­lebt, all die kleinen Riten der Liebe und Treue vollziehend, mit denen die Toten geehrt werden. Täglich stellte sie vor sein Sterbetäfelchen die üblichen Gaben, und am Abend tanzte sie ihm zu­liebe, wie sie es zu seinen Lebzeiten getan. Und dies war die Erklärung dessen, was der junge Reisende gesehen hatte.
»Es war wirklich nicht rücksichtsvoll von mir,« fuhr sie fort, »einen ermüdeten Gast aufzuwecken.« Aber sie hatte gewartet, bis sie ihn in festem Schlafe glaubte, und dann hatte sie sich bemüht, so leise wie irgend möglich zu tanzen. Sie hoffe also, er werde ihr verzeihen, ihn ganz gegen ihren Willen gestört zu haben. Nachdem sie ihm alles erklärt hatte, bereitete sie etwas Tee, den sie zusammen tranken, und dann bat sie ihn so inständig, sich ihr zu Gefallen wieder zur Ruhe zu begeben, daß ihm nichts übrig blieb, als sein Lager unter dem Moskito-Vorhang wieder aufzusuchen, was er unter wieder­holten Entschuldigungen und Danksagungen tat.
Er schlief vortrefflich — und als er erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Nachdem er aufgestanden war, fand er ein kleines schlichtes Mahl, wie das am vorhergehenden Abend, für sich bereitet. Er spürte großen Hunger; aber in der Furcht, die junge Frau hätte, um ihm so viel auf­tischen zu können, sich selbst beraubt, aß er beinahe gar nichts. Und dann machte er sich zum Fort­gehen bereit. Aber als er Miene machte, ihr für die genossene Gastfreundschaft und die Mühe, die er ihr verursacht hatte, eine Bezahlung anzubieten, wollte sie nichts davon wissen und sagte: »Was ich bieten konnte, war keine Bezahlung wert, und was ich tat, geschah nur aus gutem Herzen. Ich bitte daher, die Unbequemlichkeit zu verzeihen und nur meinen guten Willen in Erinnerung zu behalten, der leider nichts besseres zu bieten hat.« Er machte noch einen Versuch, sie zu überreden, irgend etwas anzunehmen, aber als er sah, daß sein Drängen ihr peinlich war, verabschiedete er sich, indem er, so gut er konnte, seine Dankbarkeit auszudrücken be­müht war. Er fühlte ein leises Abschiedsweh, denn ihre Schönheit und Sanftmut hatten ihn mehr be­zaubert, als er sich eingestehen mochte. Sie zeigte ihm den Pfad, den er einschlagen mußte und folgte ihm mit den Augen, wie er den Berg hinabstieg, bis er ihren Blicken entschwand. Eine Stunde später befand er sich auf einem Bergweg, den er kannte; da plötzlich fiel es ihm ein, daß er vergessen habe, ihr seinen Namen zu nennen. Er zauderte einen Moment, dann aber sagte er achselzuckend: »Ach, was liegt daran, ich werde doch immer derselbe arme Teufel bleiben!« Und er setzte seinen Weg fort.

* * *

Viele Jahre vergingen und mit ihnen viele Moden. Und der Maler wurde alt. Aber noch ehe er alt wurde, war er berühmt geworden. Von seinen Wunderwerken entzückt, hatten Fürsten miteinander gewetteifert, ihm ihre Gunst zuzuwenden, und so wurde er reich und angesehen und besaß ein vornehmes Haus in der Hauptstadt des Kaisers. Junge Künstler aus mehreren Provinzen waren seine Schüler, lebten mit ihm und suchten sich ihm in jeder Weise nützlich zu machen, während sie seinen Unterricht genossen, und sein Name war im ganzen Lande bekannt.
Eines Tages kam eine alte Frau in sein Haus und verlangte, mit ihm zu sprechen. Als die Diener ihre dürftigen Kleider und ihre armselige Erscheinung sahen, hielten sie sie für eine gewöhnliche Bettlerin und fragten sie barsch nach ihrem Anliegen. Als sie ihnen antwortete, sie könne bloß dem er­lauchten Herrn selbst sagen, warum sie komme, glaubten sie es mit einer Wahnsinnigen zu tun zu haben und fertigten sie mit der unwahren Angabe ab: »Er ist jetzt nicht in Saikyō, und wir wissen nicht, wann er zurückkehren wird.« Aber die alte Frau kam wieder und wieder, Tag um Tag, Woche um Woche, und jedesmal schickte man sie mit einer anderen Ausflucht weg: »Heute ist er krank«, »heute ist er sehr in Anspruch genommen«, oder: »Heute hat er große Gesellschaft, und man darf niemand vor­lassen«. Dessenungeachtet fuhr sie fort, zu kommen, täglich zu derselben Stunde, immer ein Bündel in einem zerschlissenen Tuch bei sich tragend. Endlich wußten die Diener sich nicht mehr zu raten und beschlossen, ihrem Herrn doch von ihrem Kommen Mitteilung zu machen. Und so sagten sie zu ihm: »Eine sehr alte Frau, die wir für eine Bett­lerin halten, steht an dem Haustor unseres erlauchten Herrn; mehr als fünfzigmal ist sie gekommen und verlangte mit unserem Herrn zu sprechen, und wollte uns nicht verraten, was sie zu ihm führe, denn sie sagte, sie könne es nur dem Herrn selbst mitteilen. Wir suchten sie abzuweisen, da sie uns verrückt zu sein schien, aber sie kommt immer wieder und wieder, und deshalb hielten wir es für das beste, es dem Herrn zu melden, damit der Herr selbst ent­scheide, was mit ihr zu geschehen habe.«
Da rief der Meister barsch: »Warum hat es mir niemand früher gemeldet?« Und er ging selbst an das Tor und sprach sehr gütig zu der Frau; denn er erinnerte sich sehr wohl daran, daß er selbst arm gewesen war, und fragte sie, ob ihr mit einer Geld­gabe gedient sei.
Aber sie sagte, sie brauche weder Geld noch Nahrung, sondern möchte nur, daß er ein Bild für sie male. Er wunderte sich sehr über ihr Begehren, führte sie aber in das Innere des Hauses. In der Vorhalle angelangt, kniete sie nieder und begann, die Schnüre des Bündels zu lösen, das sie in der Hand hielt. Nachdem sie es auseinandergefaltet hatte, erblickte der Maler seltsam reiche, golddurch­wirkte Seidenkleider, die aber sehr abgenutzt und verblaßt waren, — die verschlissene Kleiderpracht eines wunderbaren Kostüms einer Shirabyōshi aus früheren Zeiten. Während die alte Frau die Gewänder eines nach dem andern ausbreitete, und sie mit zitternden Fingern zu glätten versuchte, tauchte eine vage Erinnerung in dem Hirn des Malers auf, dämmerte dort einen Augenblick und erhellte sich plötzlich. In diesem Erinnerungsblitz sah er das einsame Berghäuschen wieder vor sich, wo er unvergoltene Gastfreundschaft empfangen hätte, — das zierliche Zimmer mit dem Papier-Moskito-Vorhang, das für seine Nachtruhe bereitet worden war, das dämmerig brennende Lämpchen vor dem buddhi­stischen Altar, die seltsame Schönheit der tanzenden Frau in der einsamen Totenstille der Nacht.
Und zum unsagbaren Erstaunen der greisen Besucherin neigte er sich, — er, der Fürstenliebling — tief vor ihr und sagte: »O, verzeiht mir, daß ich nicht gleich Euer Gesicht erkannte. Aber seit­dem wir uns gesehen, sind ja schon mehr als vierzig Jahre vergangen, — ja, nun weiß ich es ganz genau, Ihr habt mich einmal in Euer Haus aufgenommen, überließet mir das einzige Bett, das Ihr hattet — ich sah Euch tanzen, und Ihr erzähltet mir Eure ganze Geschichte. Ihr wäret eine Shirabyōshi und ich habe Euren Namen nicht vergessen.«
Während er so sprach, stand die Frau betroffen und verwirrt und konnte keine Antwort finden; denn sie war alt, hatte viel gelitten, und ihr Gedächtnis fing nun an, sie im Stich zu lassen. Aber er sprach immer liebreicher auf sie ein und erinnerte sie an viele Dinge, die sie ihm erzählt, und beschrieb ihr das Haus, in dem sie damals gelebt hatte, so genau, daß sich nun auch in ihr die Erinnerung belebte und sie mit Tränen der Freude sagte:
»Sicherlich hat die Göttin, die sich auf den Klang des Gebetes herniederneigt, mich hierher ge­leitet. Aber als mein unwürdiges Haus von dem Besuche des erlauchten Gastes geehrt wurde, war ich nicht so, wie ich jetzt bin, und so scheint es mir wie ein Wunder unseres Herrn Buddha, daß der Meister sich meiner erinnert.«
Dann erzählte sie das Ende ihrer einfachen Geschichte.
Im Laufe der Jahre hatte die Not sie gezwungen, sich von ihrem kleinen Häuschen zu trennen, und im Greisenalter kehrte sie allein in die große Hauptstadt zurück, wo ihr Name schon lange vergessen war. Es war ihr ein großer Schmerz, ihr Haus zu verlieren, aber noch mehr schmerzte es sie, daß sie nun so alt und schwach wurde und nicht mehr jeden Abend vor dem Butsudan tanzen konnte, um den Geist des toten Geliebten zu er­freuen. Deshalb wollte sie ein Bild von sich haben, in dem Kostüm und der Stellung des Tanzes, um es vor dem Butsudan aufzuhängen.
Um das hatte sie inbrünstig zur Kwan-on ge­betet, und ihre Wahl war eben auf diesen Meister gefallen, wegen seiner Berühmtheit und seiner Ge­schicklichkeit im Malen, da es ihr um des geliebten Toten willen darum zu tun war, kein gewöhnliches Bild zu bekommen, sondern ein wirklich schön aus­geführtes Werk. Und sie hatte ihr Tanzkleid mit­gebracht, in der Hoffnung, der Meister würde so gütig sein, sie darin zu malen.
Dieser hörte alles mit freundlichem Lächeln an und sagte: »Es wird mir eine Freude sein, das Bild zu malen, das Ihr wünschet. Heute muß ich etwas vollenden, das keinen Aufschub leidet, aber wenn Ihr morgen herkommt, werde ich es genau so malen, wie Ihr es angebt und so gut ich es vermag.« Sie aber erwiderte: »Ich habe dem Meister noch nicht gesagt, was mich im Geiste beunruhigt, und dies ist, daß ich für eine so große Gnade nichts anzubieten habe, als diese Tanzkleider, die an sich keinen Wert haben, ob sie gleich einstmals kostbar waren. Trotz­dem wage ich, zu hoffen, der Meister werde sie anzunehmen geruhen, da sie jetzt eine Seltenheit geworden sind, — denn es gibt nun keine Shirabyōshis mehr, und die Maikos von heute tragen keine solchen Kleider.«
»An so etwas dürft Ihr gar nicht denken,« protestierte der Künstler. »Nein, ich bin nur allzu froh, daß sich mir jetzt Gelegenheit bietet, einen kleinen Teil meiner alten Schuld an Euch abzutragen. Also, ich will Euch morgen gerne malen, wie Ihr es wünscht.«
Und mit vielen Danksagungen neigte sie sich dreimal zur Erde vor ihm und sagte: »Der Herr möge verzeihen, wenn ich noch etwas vor­bringe, — denn ich möchte nicht so gemalt sein, wie ich jetzt bin, sondern so, wie ich aussah, als ich jung war und der Herr mich gesehen hat.«
Er antwortete: »Ich entsinne mich sehr genau, Ihr wart wunderschön ...«
Ihre gerunzelten Züge verklärte ein Freudenschimmer, und sie neigte sich noch einmal dankend und rief: »Dann vollendet sich alles, was ich er­beten und erhofft. Da also der Herr sich meiner armen Jugend erinnert, beschwöre ich ihn, mich nicht zu malen, wie ich jetzt bin, sondern so, wie ich war, als er mich gesehen und geruht hat, mich nicht un­schön zu finden. O Meister, macht mich wieder jung, macht mich schön, damit ich der Seele schön erscheine, um derentwillen ich, die Unwürdige, dies erflehe. Er wird des Meisters Werk sehen und mir vergeben, daß ich nicht mehr tanzen kann.«
Noch einmal bat sie der Meister, sich keine Sorge zu machen und sagte: »Kommet nur morgen bestimmt, und ich werde Euer Bild malen. Ich will ein Bild von Euch machen, wie ich Euch als junge, schöne Shirabyōshi sah, und ich will es so sorg­fältig und fein malen, wie das Bild der reichsten Frau des Landes. Seid dessen gewiß und kommet pünktlich.«

* * *

Die alte Frau kam zu festgesetzter Stunde, und auf weiche, weiße Seide malte der Künstler ihr Bild. Doch nicht ihr Bild, wie sie die Schüler des Meisters sahen, sondern ihr Bild aus seiner Erinnerung, helläugig wie ein Vogel, biegsam wie ein Bambus, strahlend wie ein Tennin9 in ihren gold­gestickten Seidengewändern. Unter dem Zauber­pinsel des Malers belebte sich die entschwundene Anmut und erblühte in neuer Schönheit. Als der Kakemono fertiggestellt und mit seinem Siegel versehen worden war, spannte er ihn auf kost­bare Seide, befestigte ihn an Rollen aus Zedern­holz und versah ihn mit Gewichten aus Elfenbein und mit einer Schnur zum Aufhängen. Dann packte er das Ganze säuberlich in ein Kästchen aus weißem Holz, und so übergab er es der Shirabyōshi. Gern hätte er sie auch mit einer Geldgabe bedacht, aber, obgleich er in sie drang, konnte er sie doch nicht bewegen, eine Unterstützung anzu­nehmen.
»Nein,« sagte sie mit tränenden Augen, »ich brauche wirklich nichts — das Bild war mein einziger Wunsch, — darum betete ich, — und nun mein Gebet erhört ward, weiß ich, daß ich in diesem Leben nichts mehr zu wünschen habe, und daß, wenn ich so wunschlos sterbe, es mir nicht schwer fallen wird, die Bahn Buddhas zu betreten. Nur ein Gedanke bekümmert mich, daß ich dem Meister nichts zu bieten vermag, als diese Tanzgewänder, — die annehmen zu wollen ich ihn beschwöre, obgleich sie von geringem Wert, — und alltäglich will ich beten, daß sein zukünftiges Leben glücklich sein möge um der wundersamen Güte willen, die er mir bewiesen hat.«
»Ach nein,« wehrte der Maler lächelnd ab, »was habe ich denn Großes getan, — in Wahrheit durchaus nichts, — was die Kleider betrifft, will ich sie gerne nehmen, wenn Ihr es wünschet, sie werden mir angenehme Erinnerungen zurückrufen an die Nacht, wo Ihr um mich Unwürdigen auf alle Bequemlichkeit verzichtetet und für all Eure Güte nichts annehmen wolltet, — ich fühle mich dafür ganz in Eurer Schuld. Aber nun sagt mir, wo Ihr wohnt, damit ich das Bild an Ort und Stelle sehen kann.« Denn er hatte bei sich beschlossen, für sie zu sorgen. Aber sie entschuldigte sich mit demütigen Worten und verweigerte ihm jegliche Auskunft, indem sie sagte, ihre Wohnstätte sei all­zugering, um von einem so erlauchten Herrn be­treten zu werden. Dann erschöpfte sie sich stets von neuem in Danksagungen, und, ihren Schatz mit Tränen der Freude an sich drückend, entfernte sie sich. Da rief der Meister einem seiner Schüler zu: »Folge schnell dieser Frau, aber so, daß sie es nicht merkt, und bringe mir Bescheid, wo sie wohnt.«
Der Jüngling folgte ihr also unbemerkt. Er blieb lange aus, und bei seiner Rückkehr lächelte er so wie jemand, der sich genötigt sieht, etwas zu melden, was nicht angenehm zu hören ist — und er sagte: »O, Meister, ich folgte ihr aus der Stadt hinaus zum ausgetrockneten Bett des Flusses, dem Platz, wo Ver­brecher gerichtet werden, — dort sah ich eine arm­selige Baracke, wie sie ein Eta (Pariah) bewohnt, und dort lebt sie, — eine weltverlassene trostlose Gegend, o Meister!«
Aber der Meister sagte: »Morgen wirst du mich an diesen Ort geleiten; denn solange ich lebe, soll es ihr weder an Nahrung, an Kleidung, noch an Behagen fehlen.«
Und als er merkte, daß sich alle verwunderten, erzählte er ihnen die Geschichte von der Shirabyōshi, worauf sie seine Worte nicht mehr seltsam fanden.

* * *

Am Morgen des nächsten Tages, eine Stunde nach Sonnenaufgang, machte sich der Meister mit seinem Schüler auf den Weg zum ausgetrockneten Flußbett. Weit außerhalb des Stadtgebietes, dem Asyl der Ausgestoßenen. Den Eingang der kleinen Woh­nung fanden sie mit einem einzigen Laden ver­schlossen, an den der Meister mehrmals pochte, ohne daß ein Lebenszeichen von innen erfolgte. Nun bemerkte er, daß der Laden von innen nicht be­festigt war; er stieß ihn sachte auf und rief durch die Öffnung hinein. Aber als drinnen noch immer alles stumm blieb, beschloß er, einzutreten. Gleichzeitig durchzuckte ihn mit außerordentlicher Lebendigkeit die Erinnerung an jene Nacht, da er als wegmüder Wanderer um Einlaß bittend vor dem ein­samen Berghäuschen stand.
Behutsam eintretend, sah er, in einen einzigen, dünnen zerschlissenen Futon gehüllt, die Frau scheinbar schlummernd daliegen. Auf einem rohgezimmerten Regal erkannte er den Butsudan, den er vor vierzig Jahren gesehen, mit seinem Täfelchen, und jetzt wie damals brannte ein winziges Lämpchen vor dem Kaimyō. Der Kakemono der Gnadengöttin mit der Mondaureole war verschwunden, aber an der Wand, dem Schrein gegenüber, sah er seine eigene zierliche Bildergabe hängen, darunter eine Ofuda, — eine Ofuda der Hito-koto-Kwan-on, jener Kwan-on, zu der man nur einmal beten darf, da sie nur eine einzige Bitte erfüllt. Es war wenig anderes in dem trostlosen Heim, — nur weibliche Pilgerkleider, Bettelstab und Almosenschüssel. Aber der Meister beachtete nichts, denn er war begierig, die Schläferin zu wecken und zu erfreuen, und er rief fröhlich ihren Namen, einmal, zweimal, dreimal.
Da plötzlich sah er, daß sie tot war, und als er in ihr Gesicht blickte, staunte er, denn sie schien nicht mehr alt ... eine zarte Lieblichkeit war wie ein geisterhafter Jugendhauch darüber ausgebreitet. Die Sorgenlinien und Runzeln waren seltsam gesänftigt und geglättet von der Hand eines mäch­tigeren Meisters.

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1 In Kyoto nennt man sie maiko.
2 Eine Ouitarre mit drei Saiten.
3 Es ist manchmal üblich, daß die Gäste die Schalen miteinander tauschen, nachdem sie sie in höflicher Weise ausgespült haben. Es bedeutet immer ein Kompliment, die Schale von seinem Freunde zu erbitten.
4 Noch einmal bei ihr zu sein oder fünftausend Koku haben?
Fünftausend Koku miß ich gern, kann mich nur ihr Anblick laben.
In alter Zeit lebte ein Hatamoto, genannt Fuji-eda Geki, ein Vasall des Shogun. Er hatte ein Einkommen von fünftausend Koku Reis, was in jenen Tagen als ein großes Einkommen galt Aber er verliebte sich in eine Bewohnerin des Yoshiwara, namens Ayaginu, die er hei­raten wollte. Als sein Herr ihm befahl, zwischen seiner Laufbahn und seiner Leidenschaft zu wählen, flohen die Liebenden insgeheim in das Haus eines Landmanns und töteten sich dort gemeinsam. Das angeführte Lied wurde auf sie gedichtet, und man singt es noch bis auf den heutigen Tag.
5 »Liebster, stirbst du einst, nicht sollst ins Grab du sinken,
In einem Becher Wein will deine Asch’ ich trinken.«
6 Maneki-Neko.
7 Buddhistische Speise, die keinerlei animalische Sub­stanz enthält. Manche Arten von Shojin-Ryori sind sehr schmackhaft.
8 Die Bezeichnungen Oshiire und Zendana können durch »Garderobe« oder Kredenzschrank wiedergegeben werden. Die Fusuma sind verschiebbare Schirme, die als Türen dienen.
9 Tennin, ein »Himmelsmädchen«, ein buddhistischer Engel.

Hermynia Zur Mühlen - Tod dem Bourgeois!

Tod dem Bourgeois! Er hockt herum, schwersäßig, angefressen, stumpf, ein Erdklumpen, jedes Aufschwungs unfähig, kleinlich bis in die letzte ...