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Hanna Rovina als besessene Lea in einer Dibbuk-Aufführung in Moskau um 1920 |
Martha
Wertheimer
Die Rowina
Die erste Begegnung
zwischen den jüdischen Menschen in Deutschland und der theatralischen Sendung
der »Habima« liegt jetzt über acht Jahre zurück. Sie ist unvergessen. Zu der Begegnung
mit dem Hebräischen
als lebendiger, kunsttragender Sprache kam die Erkenntnis von der unsterblichen Kraft des jüdischen Geistes, kam die
Überzeugung von seinem sieghaften Optimismus
und der Unüberwindlichkeit jeder Idee unter uns,
solange sie sich nicht von den nährenden Wurzeln unserer Tradition und Bestimmung gelöst hat. Es sind acht Jahre —
und heute
noch bedeutet diese Begegnung Erneuerung
von Kräften und von Hoffnung.
Ein glühender Wille hat
zwanzig Persönlichkeiten zusammengeschmolzen, zurück ins Urelement
der Verwirklichung: Sinnlichmachen des Sinns
hinter den Dingen. In der Leibesblüte, in der starren Maske, in der unerhörtesten Tänzerschaft aller Glieder, in den
sagenden und singenden Stimmen, in der Renaissance des pathosbedingenden,
dröhnenden, gesanglichen Iwrith, in der Vergewaltigung der Form, die kein
Selbstzweck ist, nur Knecht und Werkzeug
— immer
ist darin diese Leidenschaft, mit der jeder einzelne dieser Schauspieler sich darbringt. Was sie
auch spielen, sie spielen die
Geschichte des jüdischen Menschen. Es ist Israels Kampf mit Gott, der ihm alles ist: das Gute und das vermeintlich
Böse, je nachdem, wer ihn sieht, wer etwas tut. Die hebräische Sprache aber
liegt für
unser schwankendes Verständnis als ein schwerer,
wunderbarer Schleier über
den Handlungen,
— als ein tönender
Schleier. Denn die sie sprechen, sind fromme Diener einer inbrünstig dargebrachten Idee. Das
ist das
Wunderbarste: die »Habima« hat keine
Stars und keine Chargen. Namen, die gestern Herrlichkeit und Heldentum tragen, tragen heute
eine Bagatellrolle (wenn es so etwas in dienender Kunst überhaupt gibt).
Dennoch sagen alle, die
jemals die »Habima« sahen, hinter dem Namen der Gemeinschaft her: die Rowina. Denn, was von der Kunst der »Habima« gesagt werden darf, ist in der Rowina gleichsam verdichtet.
Wer
ist die Rowina? Diese Frage geht niemals in die Vergangenheit. Das russische
Mädchen aus irgend einem bürgerlichen Beruf ist längst nicht mehr. Die blühende Mutter schöner Kinder ist uns
fern. Aber mitten unter uns
ist die Künstlerin lebendig, die der natürliche Gipfel der »Habima« ist
und der individuelle Ausdruck eines Stils. Wir wissen von der Stimme der Rowina, dieser dunkelhellen, liedhaften Stimme, in der das Schluchzen aus den Schmerzensgründen Israels steigt,
in der der Jubel der Cherubim aufschmettert, — und ihr Liebesflüstern ist
wie Morgenwind, bevor die Sonne da ist.
Wir wissen von der hohen Schlankheit ihres Leibes und der Sprache ihrer langen Hände, die
unwirklich sind, kaum
noch Schleier eines Körperlichen über der Unmittelbarkeit des Geistes.
Wir wissen von den heißen
Augen, die blicklos weit unter der adeligen Stirne flammen — Wir
sahen das alles, hörten sie — —
In »Keter Dawid«
(Calderon): keusche
Linie des jungfräulichen Stolzes das weiße Gesicht zwischen kupfernen Zöpfen
gebändigt, die langen
Hände an der Harfe,
gotisch übersteigert, mit einer Stimme aus einer anderen Welt. Dieselbe Rowina — umflammt von ihren roten
Locken, lockend,
verderblich, unheilig, hinreißend, Tänzerin
aller Leidenschaften, deren Bewegungen
so selbstverständlich fließen, daß man erst Tage später weiß, wie groß ihre
Kunst hier das
Selbst-Verständliche schuf.
Dann geht sie im »Golem« (Leiwik)
in den Knäuel
der Elenden und und Verfolgten hinein, die im verfallenen
Turm vor der Blutlüge zittern, und steht
in ihrem schluchzenden Lied, vergeistigte Hoheit des erflehten Messias, ewig
erwartet und ewig verkannt. Da wehrt sie sich als »Mutter des Messias« gegen das kommende Leid und trägt Haß und Entsetzen vor sich her, die ihr selber am wehsten tun. Aber keiner vergißt
sie im weißen
Brautkleid mit den schwarzen Zöpfen,
die gefangene Dybuk-Seele, die ringende und gebietende, die wider den
magischen Kreis des Gebotenen und Gesollten die hohe Sehnsucht ihrer verlangenden Liebe
in das Unbekannte
hinauswirft und das
Menschliche endlich durchbricht — wir nennen’s Tod.
Es sei uns nicht Vermessenheit,
daß ein Erschütterter in der Erscheinung dieser Frau ein Himmlisches zu spüren
meinte. Jüdischen Herzen sagt der Name nichts anderes als dies:
eine Kraft wurde gegeben, eine Kraft strahlt aus, Botschaft an die Zweifelnden, Irrenden, Zerrissenen, an die Weinenden, die Trostsuchenden und die
stolz Bestätigten. Solche Kraft wird als Verpflichtung zum höchsten Dienst gegeben.
Die Rowina dient.
Aus: Der Morgen, Monatsschrift der Juden in Deutschland (1925 - 1938), Philo-Verlag, Berlin, 1935, Heft 3, S 131f.