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Hendrick ter Brugghen - Esau Selling His Birthright |
Von Ida
Lublinski
Die Bibel enthält in
ihren Erzählungen Darstellungen von Lebensverhältnissen, die in die
schriftlosen Anfänge des jüdischen Volkes hinabreichen. Es ist bekannt, daß mit
der Niederschrift der Bibel erst verhältnismäßig spät begonnen wurde, während
die Entstehung der mündlich überlieferten Erzählungen um viele Jahrhunderte,
vielleicht Jahrtausende zurückliegt in der Dauer so langer Zeiträume wandeln sich
aber Zeitanschauungen und Zeitverhältnisse entscheidend und manch eine alte Überlieferung,
die aus ganz anderen
Lebensverhältnissen entstanden ist, wird unverständlich. Weil sie aber zu den
geheiligten Traditionen gehörte, suchten die Männer, die endlich an ihre
Niederschrift gingen, das Tatsachenmaterial nach den Anschauungen ihrer Zeit umzudeuten,
was nicht immer gut gelang und unter Umständen geradezu Entstellungen ergab.
Diesen
Vorgang möchte ich an einem Beispiel aus der Bibel zeigen, der den Gegnern
des Judentums irrtümlich Veranlassung gab, den angeblich betrügerischen Charakter der Juden schon aus ihren
heiligen Erzählungen zu beweisen. Es ist dieses der Bericht von der angeblichen
Überlistung Isaaks durch
seine Frau und seinen jüngsten Sohn. Wir können heute mit unserem erweiterten
ethnologischen Material den Vorgang richtiger deuten und dadurch erkennen, daß
diese Handlung aus einem ganz anderen Vorstellungskreis hervorgegangen ist.
Für
die beiden letzten Jahrtausende wurde es eine selbstverständliche Vorstellung,
daß die Erstgeburt ein Vorrecht gibt und dabei wurde lange übersehen, daß dies
auch heute noch nicht überall der Fall ist. In den höheren sozialen
Schichten hat sich diese Sitte wohl freilich überall durchgesetzt, aber im Bauerntum, das ja viel
konservativer noch manche Vorstellung der Vergangenheit bewahrte, ist es noch
jetzt zuweilen, und war es vor hundert Jahren
noch oft Sitte, daß nicht der älteste Sohn den Hof und das Erbe
erhielt, sondern
daß dieser dem jüngsten Sohne zufiel. Diese Sitte läßt sich z. B. in England in den Gesetzbüchern
um 1000 Jahre zurückverfolgen, und gelehrte
Forscher bemühen sich diesen Brauch zu erklären. Einer dieser
Forscher nimmt an, daß die älteren Söhne das Haus verlassen, um sich eine
eigene Heimstätte zu schaffen und daß deshalb der Jüngste den Hof, der oft nur
ein Lehnshof war, erhält.
Dabei wird aber übersehen, daß die älteren Söhne
eben diesen Hof verlassen, weil der Jüngste der selbstverständliche
Erbe ist, wie bei uns auf den Fideikommißgütern die jüngeren Brüder dazu gezwungen werden, weil sie erblos sind.
In einzelnen Fällen nämlich, in denen das Erbe doch schon geteilt wird, bekommt
der Jüngste immer Haus und Herd, er hatte
also den Vorzug, der Weiterführer des Geschlechtes zu sein.
Neben
dieser Sitte bestand und besteht noch heute vereinzelt die andere, daß nicht der jüngste Sohn,
sondern die jüngste Tochter den Erbhof und das ganze Erbe bekam, daß sie es
also war, welche das Geschlecht in die Zukunft
weiter führte. War eine Tochter nicht vorhanden, so erbte die
Tochter der Mutterschwester.
Diese
Sitten waren nicht auf die britische Insel beschränkt; wir finden sie in Frankreich und
Deutschland, worüber Bastian und Grimm berichten,
in Dänemark, Norwegen, Schweden, Rußland, bei den Kelten, Ungarn
und Balkanstämmen. Bei den
letzten übergibt der Vater bereits seine Macht und damit wohl seine soziale Stellung
schon dem ältesten Sohne, während der Hof noch immer dem jüngsten
Sohne zufällt.
Von
den Römern ist uns diese Sitte nicht bekannt. Es darf dabei nicht vergessen
werden, daß das neu aufgerichtete römische Recht, das jus civile, sehr oft in starkem Gegensatz
zu dem jus naturale stand, das früher auf der
italischen Halbinsel herrschte und aus dem diese uns befremdende
Sitte hervorgegangen ist. Sie existiert heute noch bei vielen Naturvölkern
Asiens und auch
in Indien finden wir sie häufig, ja bei einzelnen Stämmen erbt auch hier nicht der jüngste Sohn,
sondern die jüngste Tochter den Besitz. Diese Vorzugsstellung wird damit
begründet, daß sie das Geschlecht am weitesten in
die Zukunft führt und dadurch den Ahnen auf längere Zeit hin die
schuldigen Opfer
zu bringen vermag. Hier erkennen wir deutlich, daß eine religiöse Anschauung
diese Vorzugsstellung geschaffen hat. Ohne sie wäre es auch schwer verständlich,
daß sich die älteren Geschwister der oder dem Jüngsten untergeordnet hätten. Da dieser Vorzug der Jüngstgeburt
noch heute von vielen afrikanischen und australischen Stämmen berichtet wird,
dürfen wir wohl schließen, daß er in einer Frühzeit des Menschengeschlechtes
allgemein verbreitet
war und auch bei den jüdischen Stämmen bestanden hat.
Die
Erzählung der Bibel, von der ich ausging, schildert uns diese Stämme als
nomadisierende Hirtenvölker, bei denen der Vorzug der jüngsten Tochter nicht mehr
bestanden haben kann, da bei den tierzüchtenden Völkern der Mann die Frau sehr
früh aus der mutterrechtlichen Stellung drängte, weil die Tierzucht und damit
die Schaffung eines wertvollen Besitzes sein unbestrittenes Vorrecht war.
Setzen
wir, veranlaßt durch die vielen Beispiele, welche die Geschichte und die Ethnologie
bei den allerverschiedensten Völkern der Erde zeigen, auch bei den Juden einmal das Vorrecht der
Jüngstgeburt voraus, so leuchtet es ein, daß dieser durch religiöse Begründung
geheiligte Vorzug nicht ohne heftigen Widerstand in sein Gegenteil umzuwandeln war, daß
hierbei auch die Ansichten
innerhalb der Familie nicht immer übereinstimmen konnten. Während der »moderner« gerichtete Teil die neue
Wertung annahm, behielt der traditionstreuere die alte Überlieferung und suchte sie
mit allen Mitteln zu
erhalten. Von dieser Seite betrachtet gewinnt die Tat Rebekkas und ihres Sohnes ein
ganz anderes Aussehen. Sie kämpfen gegen ein neues Recht, das ihrem religiösen
Empfinden als Unrecht erscheinen mußte, sie fühlen sich dabei als die Bewahrer
einer alten geheiligten Sitte. Daß sie diesen Kampf auch mit Hilfe der alten heiligen Riten führen,
beweist die so mißverstandene und daher falsch gedeutete Handlung von der Bekleidung Jakobs
mit dem Tierfell.
Bei
einigen nomadisierenden Hirtenstämmen Afrikas, die nicht zu den Negern
gehören, eine verhältnismäßig hohe, alte Kultur besitzen, in vorgeschichtlicher
Zeit wahrscheinlich mit den jüdischen Nomadenstämmen in enger Verbindung standen und manche religiösen
Gebräuche wie z. B. den der Beschneidung mit ihnen gemeinsam haben, sind Sitten
erhalten, die ein neues Licht auf die Bibelerzählung werfen können. Sir James Frazer
hat diese Sitten
gesammelt und spricht bereits die Vermutung aus, daß hier ein Zusammenhang mit
der Erzählung der Bibel bestehen könnte.
Diese
Völker wenden bei der Adoption von Kindern und bei den Mannbarkeitsweihen der
Jünglinge eigenartige Kulthandlungen an. Wenn bei den Gallas ein Kind adoptiert
werden soll, müssen es die eigenen Eltern in den Wald führen und für tot erklären. Darauf übernehmen
es die Adoptiv-Eltern mit folgender Zeremonie. Ein Ochse wird geschlachtet,
sein Fell wird um
den Hals des Kindes gehängt, Stücke seines Felles um die Handknöchel gelegt und mit dem
Blute des getöteten Tieres die Stirne des Kindes bestrichen, sein Fleisch aber
zu einem heiligen Festmahl zubereitet, das gemeinsam genossen wird.
Der
ursprüngliche Sinn dieser Riten tritt nicht mehr hervor, er ist wohl auch bereits
vergessen, obwohl der Vorgang selbst zur Adoption unerläßlich ist. Bei einem
kleinen, abgelegener wohnenden Stamme der gleichen Volksfamilie hat sich aber
der ursprüngliche Sinn dieses Vorgangs noch ganz klar erhalten. Er scheint eine Art Pubertätsfeier zu
sein, weil der Knabe erst danach berechtigt ist, an bestimmten religiösen Festen der
Erwachsenen teilzunehmen. Er wird die »Geburt aus der Ziege« genannt, soll
also wohl eine Neugeburt
bedeuten. Eine Ziege wird geschlachtet, von dem Ziegenfell wird ein rundes
Stück auf die linke Schulter des Kindes gelegt und unter dem rechten Arm
befestigt. Der Magen der Ziege kommt auf die rechte Schulter und wird unter
dem linken Arm befestigt. Die Mutter setzt sich auf das Ziegenfell, nimmt das
Kind zwischen die Beine, um Beide werden die Ziegendärme gewickelt. Die Mutter
muß nun stöhnen, als ob sie in den Wehen wäre, Frauen durchschneiden die Ziegendärme und das
Kind muß den Schrei eines Neugeborenen nachmachen. Es wird also ein richtiger
Geburtsakt gemimt bei
dem nur Frauen zugegen sein dürfen. Weshalb nun die Geburt gerade aus einer
Ziege sein soll, hat besondere Gründe, die hier nicht erläutert werden können.
Auch
bei anderen Stämmen dieser Volksfamilie besteht bei den Mannbarkeitsfeiern der
Jünglinge die geheiligte Sitte, eine Ziege zu schlachten, ihr Fleisch zu
einer Festmahlzeit zuzubereiten, Stücke ihres Felles um die Handgelenke,
gelegentlich auch um Schulter und Hals des jungen Mannes zu befestigen.
Diese
Gebräuche zusammen mit dem alten Vorrecht der Jüngstgeburt, lassen uns die
Erzählung von Jacob und Esau in ihrer früheren Bedeutung besser verstehen. Die darin geschilderten
Vorgänge spielen sich in der Zeit der Umwertung einer alten geheiligten Tradition ab, in der
das Vorrecht der Jüngstgeburt,
nach dem Tode des Vaters, Stammhalter des Geschlechts zu werden, langsam auf den Erstgeborenen überging,
wo es sich bis heute erhalten hat. Daß aber die Umbildung dieser Tradition
starken Widerstand zu überwinden hatte, zeigt die Erzählung der Bibel. Die
Mutter ist die Bewahrerin des alten Glaubens, während sich der Vater der neuen
Anschauung angeschlossen
hat und sie durch seinen Segen zur Wirksamkeit bringen will. So wird auch
die sonderbare Übereinkunft zwischen den beiden Brüdern verständlicher, der
Verkauf des Erstgeburtsrechts um ein Linsengericht. Wenn diese bereits ein altes, geheiligtes Recht gewesen
wäre, dürfte ein solcher Vorgang kaum möglich gewesen sein.
Wir
kennen die ursprüngliche Form der Überlieferung nicht mehr, wissen aber,
daß sie durch Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende nur mündlich weitergegeben
wurde. Es ist verständlich, daß in so langen Zeiträumen sich nicht nur die
Lebensverhältnisse sondern auch die Anschauungen ändern können, ja durch neu
gewonnene Erkenntnis ändern müssen. Davon wird aber der Inhalt religiöser Überlieferungen nicht
berührt, weil die Beharrungskraft des Gemütes sich mit großem Konservativismus gegen
jede Änderung wehrt. Die im religiösen Glauben fest verwurzelte Tradition
bleibt heilig, wenn auch ihr Sinn nicht mehr verständlich ist und wird daher durch alle
Zeiträume unverändert beibehalten. Auch die Erzählung von Jacob und Esau blieb
die alte, obwohl
im Laufe der Jahrhunderte die nomadisierenden Hirtenstämme sich in ein seßhaftes,
ackerbautreibendes Volk mit festen Wohnsitzen umgewandelt hatten, das mannigfache, oft recht schwere
historische Schicksale durchkämpfen mußte. Diese veranlaßten verantwortungsvolle
Führer, die religiösen Überlieferungen ihres Volkes zu sammeln und in einem
heiligen Buche schriftlich
festzuhalten. Dabei mußte es sich zeigen, daß manche Überlieferung nicht mehr
richtig verstanden werden konnte. Das Vorrecht der Jüngstgeburt war bei dem
seßhaften Volke lange dem Recht der Erstgeburt gewichen, nichts erinnerte an
diese uralte Sitte und vergessen waren die früheren Zeremonien der
Jünglingsfeiern nomadisierender Hirtenvölker. Man konnte daher den Sinn der
heiligen Überlieferung nicht mehr richtig verstehen und mußte aus der eigenen
Vorstellungswelt heraus eine Erklärung versuchen. Dadurch wurde eine Umdeutung
unvermeidlich, die wohl manchen neuen, feinen menschlichen Zug in die Erzählung
brachte, aber leider durch die Unkenntnis der lange verschwundenen Vorstellungswelt in der
Hauptsache doch zu einer Entstellung führte. Erst die moderne ethnologische Forschung
ermöglicht uns, die
alte Bedeutung wieder zu erkennen. Zusammenfassend möchte ich daher die Erzählung
von Jacob und Esau in folgender Weise deuten.
Sie
führt uns in eine vorgeschichtliche Vergangenheit der jüdischen Stämme, in
welcher sich auch bei diesen nomadisierenden Hirten in Gefühl und Denken
eine sehr wichtige Wandlung vollzog, die schließlich zu dem Kampfe um das Recht der
Erstgeburt führte. Dieser Kampf, diese Umwertung
einer alt-eingebürgerten, religiös begründeten Tradition ergab
natürlich Konflikte, die oft genug auch innerhalb der Familie zum Ausbruch
kommen mußten, wenn die
Ansichten der Familienmitglieder sich hier teilten. Auch hier stehen sich zwei
religiös anders eingestellte Parteien gegenüber. Frauen
pflegen in religiösen Dingen konservativer zu sein, so erscheint
auch Rebekka als
eifrige, tief überzeugte Bewahrerin des Althergebrachten, während es andererseits begreiflich ist,
daß in einer solchen Zeit der Umwertung der
Vater geneigt ist, seinen ältesten Sohn zum Stammhalter des
Geschlechts und Haupt
der Familie zu machen. Der älteste Sohn, der eigentliche Nutznießer dieser Umwertung, steht ihr
jedoch ziemlich indifferent gegenüber, oder die
alten Anschauungen sind noch so mächtig in ihm, daß ihre
Nichtachtung trotz des
väterlichen Wunsches sein Gewissen beunruhigt. Seine Gleichgültigkeit oder der innere Zwiespalt
lassen ihn daher um ein Linsengericht auf die ihn erwartenden Vorteile
verzichten.
Nachdem
der jüngere Bruder auf diese Weise seine Einwilligung erlangt hat, führt die Mutter, die
sich als Bewahrerin der geheiligten Tradition fühlt,
mit ihm die alten Riten aus, deren Eindruck sich auch der Vater
nicht zu entziehen
vermag. Sie veranlassen ihn, das Vorrecht der Jüngstgeburt anzuerkennen und
Jacob den Segen zu erteilen, der ihn zum Stammhalter und
Haupt des Geschlechtes macht. Die Erzählung der Bibel zeigt uns
deutlich, daß
der Segen Jacob nur diesen ideellen Vorteil brachte, denn es wird ausdrücklich
vermerkt, daß er arm die Heimat verließ, während Esau im Besitze des ganzen
Erbes blieb.
Die
weiteren biblischen Erzählungen zeigen uns, daß der Kampf um die Jüngstgeburt noch nicht
abgeschlossen und das Recht der Erstgeburt ein halbes
Jahrhundert später noch nicht selbstverständlich geworden war.
Als Jacob auf dem Totenbette liegt, bringt Joseph seine beiden Knaben zu ihm,
damit er sie segne und stellt
den Ältesten zur rechten, den Jüngsten aber zur linken
Hand des Vaters auf. Jacob legt aber seine rechte Hand nicht auf
das Haupt des
ältesten Knaben, sondern kreuzt seine Hände, damit die Rechte auf das Haupt des jüngsten Kindes kommt.
Da dieses besonders bedeutungsvoll vermerkt ist, muß sich auch mit dieser
Handlung noch eine Bevorzugung verbunden haben, die auf das ursprüngliche
Recht der Jüngstgeburt zurückging.
Aus: Der Morgen, Monatsschrift der Juden in Deutschland (1925 - 1938), Philo-Verlag, Berlin, 1935, Heft 4, S 396ff.