Tigerin, Affe und Kuckuck
Tierfabel
Zirkus Busch ist in seinem Extrazug von Berlin abgereist. Ich bin zu seinem Abschied auf die Bahn gekommen, früh am Morgen; der Komet stand noch über der Sternwarte, aber die Zirkussterne, Schulreiterinnen, Jongleure, Auguste, der Riese mit dem Zwerg, der große Bär, die Elephantin, das Dromedar, der glitzernde Galawagen, alle waren sie im Lauf und bald im vollsten Zuge. Noch lange hörte ich das Brüllen der Tigerinnen, nie haßte ein Mann so wütend das Weib wie der Bändiger dieser gestreiften Katzenleiber. Der Puls des Zirkus blieb stehn, trat der unerschrockene Sultan in das Gittergemach seiner brüllenden Sklavinnen. Er mißbraucht sie nicht zu Kunststücken, läßt er auch die
Kunstreiterin seiner Tigerinnen durch einen Papierreifen springen. Wollust bereitet ihm, seine wut¬schäumenden Tigerweiber mit Stangen und Schüssen bis zur Wutekstase zu reizen und sie zu bezwingen. Schschschschschschsch — sch — die beiden eleganten Brüder Fillies und ihre graziöse Schwester werfen noch einen kurzen Blick auf den Perron, der Clown mit der genialen Ungeschicklichkeit verlangt auf idiotisch vom Zeitungsträger den »Ulk« — Sch . . . . Berlin hat sein größtes Kind eine Weile verloren, den Zirkus; wo geht man nun hin, um zuzugucken? Wie ein Mensch soll der Affe sich im Wintergarten benehmen. Herr Darwin, der Enkel des großen Zoologen, wird mich ins Variété begleiten. Es ergreift ihn, so einen gebildeten Vorfahren seiner Baumzeit zu sehen. Ich bin ebenfalls von dem fletschenden Erzurgroßvater entzückt. Ein Gourmet ist der greise Herr, keineswegs lebt er von Luft und Erkenntnis. Der verwandte Künstler da oben verzehrte ein Menu von Dressel und regalierte sich an Heidsieck-Monopol. Mit Verbindlichkeit raucht er die Zigarette, die ihm ein Bewunderer verehrte. »Es ist Zeit« noch prüft er die Zeiger auf seiner Uhr. — Ich möchte mich auch in ein solches Prachtbett legen — ich bin müde — die Nacht vorher brachte ich, mich verirrend, in der Kolonie Grunewald zu; im Rieselregen auf einer runden Sommerbühne, worauf die Gärtner Kiesel legen. Nasse Nacht, kein Komet mehr. Ich war trostlos. Plötzlich rief der Kuckuck — ich bezog es zu erst persönlich, aber so unhöflich sind nur die Kuckucksuhren. Dieser da zwischen jungem Grün zwischen April und Mai, ist ein vortragender Künstler, ein wundervoller Komiker. Also gibt es wirklich Kuckucke? Ich dachte immer, es sei eine Fabel.
Aus: Der Sturm, Halbmonatsschrift für Kultur und die Künste, Jahrgang 1911, 12. Mai 1911, Hannover
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