SPUK
Erzählung von
Johannes Wendelin
Ein frischer,
eislufterfüllter Wind fegte unaufhörlich den Bahndamm hinunter. Wir standen auf
dem versteckten Perron eines kleinen Bergortes in der französischen Schweiz.
Soweit das Auge reichte: Felsen, Klüfte, Fichtentäler und In der Höhe die
ewigen Schneekuppen und ein hellblauer dünner Himmel.
Neben mir
wippte meine lebenslustige Freundin auf den Zehenspitzen auf und nieder. Sie
hatte keinen Sinn für Seßhaftigkeit und wartete noch ungeduldiger als ich
darauf, fortzukommen. Vor einigen Tagen war sie mit mir auf eine unvorbereitete
Liebesreise ausgerissen; daneben aber verfolgte sie noch einen anderen Zweck.
Sie benutzte seit Jahren jede Möglichkeit, in die Welt hinaus zu kommen, weil
sie nach einem verschollenen Bruder suchte. Sie selbst hatte ihn nicht gekannt.
Ihre Eltern hatten ihr erzählt, daß er frühzeitig verunglückt, der Leichnam
aber nie aufgefunden worden sei. Vielleicht war es nur eine Starrköpfigkeit von
ihr; aber sie glaubte nicht an seinen Tod, obwohl alle Nachforschungen und
Reisen vergeblich blieben.
Von Ferne
klang endlich das Stampfen und Fauchen des Zuges herauf. Die Entfernungen
täuschten, wenige Minuten danach verschlang schon die kleine gedrungene Lokomotive
mit schwerem Zischen langsam die schwarzen Bahnschwellen zwischen uns und ihr.
Ein einziges Abteil
wurde aufgeschlagen. Das erregte Gesicht eines älteren Herren sprang an uns
vorüber. Wir mußten warten, da offenbar mehrere Reisende heraus wollten. Ein
dunkel bekleideter Bauernrücken schob sich in die Türöffnung, scheinbar noch
mit einer schweren Last im Innern beschäftigt.
Da hörte ich
hinter mir den ärgerlichen und hastigen Ruf: »Où est le chef de gare? Hélas,
monsieur, nʼy a-t-il pas un médecin chez vous? Nous avons un malade.«
»Voilà,
monsieur,« rief ich und drehte mich um.
Der Herr mit
dem erhitzten Gesicht lief auf mich zurück: »Ah, sacre Dieu, cʼest bien«, und
den Deutschen in mir erkennend: »Man trägt ihn hinaus, sehen Sie . . .«
Ueber dem
inzwischen ganz heruntergetretenen Bauern sah ich einen zusammengefallenen,
bewußtlosen menschlichen Rumpf. Ich schrak zusammen. Das Antlitz seinen mir
nicht unbekannt, aber es sah grauenhaft aus. Bleich, abgezehrt und eingefallen,
aber ununterbrochen bewegt, krampfhaft zuckend. Ein nur wenige Wochen aller,
ungepflegter Vollbart, und die verwirrten Haarbüschel machten es noch wilder
und leidender. Ich suchte die herabhängende Hand; hohes Fieber, ein
verdoppelter Puls hämmerte durch die Adern.
Man legte den
Kranken auf eine Bank. Leise wimmernd und stöhnend griff er mit unruhigen
Fingern an den Kopf. Dort schien der Krankheitsherd zu liegen. Meningitis? Ich
war meiner Sache nicht ganz sicher.
Jedenfalls
mußte ich bleiben. Es tat mir meiner jungen Freundin wegen besonders leid. Doch
Eile tat Not. — Eine Stunde später lag der Kranke mit einem Eisbeutel auf dem
rasierten Schädel in einem Fremdenbett des tiefer gelegenen Wirtshauses des
Ortes im verdunkelten Zimmer.
Wir kannten
ihn wohl doch nicht. Die einzige Spur in unserer Erinnerung wies nach Berlin,
wo wir dem jungen Mann in der Gesellschaft begegnet sein konnten. Sein Zustand
war aussichtslos: eine Gehirnhautentzündung, die den entscheidenden Punkt schon
überschritten hatte. An die Stelle der Unrast war jetzt eine Ruhe getreten, die
der Lähmung glich. Aber zwischen den Anfällen tiefen Schlafes lagen Momente, ja
Stunden des Bewußtseins, in denen er sogar sein Gedächtnis wiedererlangte und
schwerfällig sprach.
Auch uns
erkannte er nicht. Wir wachten abwechselnd Tag und Nacht am Bett. Ich fragte
ihn nach den Ursachen seiner Krankheit. Ob er gestürzt sei oder einen Schlag
auf den Schädel erhalten habe? Oder ob er Alkoholiker wäre? Zuletzt deutete ich
an, daß die Krankheit durch eine große seelische Erregung hervorgerufen sein
könnte.
Da sah er
mich fast lauernd an. Seine Pupillen waren übergroß und tief schwarz geworden.
Dann überlegte er, blickte wieder zu mir zurück und schien eine längere
Erklärung geben zu wollen. Eine neue Erregung konnte ihm jetzt nicht mehr schaden,
vielleicht nur sein Ende beschleunigen. Er sprach zuweilen abgehackt, heiser,
vereinzelt auch ganz laut. Meist lag er wie in einer Vision mit weit
aufgerissenen Augen:
»Ja — Sie
haben Recht damit — es war vor zwei Tagen —« ich wußte, daß dies Lüge war, die
Krankheit mußte bereits länger dauern, »— ich kam — sehr ermüdet — an einen
Waldrand — und blieb liegen. Damals — hatte ich auch schon keine Kraft mehr.
Und — ja — vielleicht, ich weiß nicht, hatte ich auch schon Fieber. Aber in der
Nacht — das — das allein ist die Ursache von allem.
Ich wurde
dort aufgelesen, von Bauern. Als ich erwachte, lag ich in einem Bett. Einem
Landbett mit Federdecken, in einem fast kahlen Zimmer. Es war dunkel. Niemand
war im Raum. Mir war sehr heiß. Ich schlief dann wieder ein. Mir erschienen
Menschen, die ich kannte. Ein Mädchen — aus meiner Stadt. Sie sagte mir etwas,
was ich nicht erwartet hatte. Dann kam auch er — nein, dann kam ein Mann, ein
Künstler, ein Mensch mit stechendem Blick und einer scharfen, gebogenen Nase.
Der wollte sich rächen — ach, was sage ich da — er wollte mir Böses tun — mit
Gewalt. Er schrie mich an. Da erwachte ich.
Ganz in
meiner Nähe klopfte es, so, als ob Jemand einen leeren Holzkasten neben mein
Ohr hielt und zaghaft darauf pochte. Ganz leise und behutsam. Aber das Zimmer
war stockfinster, ich sah nichts. Das Klopfen kam in Zwischenräumen wieder.
Jedesmal wurde es schärfer, eindringlicher. Ich täuschte mich nicht. Es war an
dem Holzgestell meines eigenen Bettes. Solche Schläge konnte nur ein Mensch
hervorbringen! Ich bekam Angst. Ich hielt den Atem an. Mein Herz hämmerte mit
lauten Stößen.
Da vernehme
ich plötzlich ein Rascheln. Es ist kein Zweifel mehr! Die Geräusche kommen
unter meinem Lager hervor. Ich will schreien; aber ich wage es nicht. Ich kann
auch gar nicht. Jetzt scharrt es regelmäßiger. Ein vorsichtiges Schieben von
Stelle zu Stelle. Es kommt deutlicher heraus. Vor Furcht werde ich geschüttelt.
Ich sitze halb aufrecht. Weiche Laute fassen dazwischen. Jemand greift an das
Bettgestell. Mein Herz rast wild! Wie ein Tappen ist es ganz in meiner Nähe.
Ich spüre in der Dunkelheit das Dasein des anderen. Vom Innersten an bin ich
ganz Angst — Angst und Schrecken.
Wie ich an
das Licht auf dem Nachttisch kam — weiß ich nicht. Aber ich konnte ein
Streichholz anzünden. Die Kerze flackerte. Die Stube war zu dunkel. Ich
vermochte nichts zu sehen. Da brannte die Flamme ruhig und hoch auf. Nichts da.
Ich beuge mich vor — — und schreie — schreie — glaube zu schreien — denn in Wirklichkeit
preßt sich ein Ächzen und Röcheln aus meinem Mund. Unter mir — unter dem Bett —
da kommt ein nackter, menschlicher Rumpf — Schultern — ein Hals ohne Kopf — mit
einer blutenden Wunde hervor.
— Ich weiß
nicht mehr alles, was war. Ich höre mich ununterbrochen jammern und wimmern.
Wie ein Hund, der jault. Der Rumpf mit der offenen Wunde kriecht weiter! Die
Oberarme, hager und bloß, schieben ihn allmählich hervor. Alles ist so elend,
so ausdruckslos. Wo ist der Kopf? Wenn ein Gesicht da wäre, das würde mir etwas
sagen. Die Züge hätten irgendeinen Sinn. So ist aber gar nichts da. Nur ein
blutender Körper. Sein Körper! Nie habe ich ihn ohne Kleider gesehen, aber ich
weiß es. Ich verstehe auch, weshalb der Kopf nicht da ist. Er hat mich nicht
ängstigen wollen. Er kennt meine Scheu vor dem stechenden Auge. Ich habe ihm
gesagt, daß es mich beunruhigt, wenn er mich ansieht. Deshalb hat er das Haupt
fortgetan. Aus Mitleid mit mir. Aus Fürsorge. Das hatte ja sie, die mir vorher
erschienen war, auch gesagt.
Aber dies ist
viel entsetzlicher. Das Grauen packt mich! Ich winsele immer unterdrückt
weiter. Da — da — die Schultern ziehen die Arme ganz heraus. Seine langen
Finger — sie pochen noch einmal an — ah, jetzt erkennen sie — empfinden sie
mich. Sie werden emporgehoben. Der ganze nackte Oberkörper schwebt hoch. Mir
entgegen. Die Arme, die langen, fürchterlichen Arme heben sich. In weitem
Bogen. Zu mir. Ich will nicht, nein, nein, ich will nicht. Du sollst mich nicht
umarmen! Du sollst mir nicht verzeihen! Geh fort! Vater unser, — Schemah
Jisroel —, es gibt keinen Gott, — ich, ich, — Allah il Allah! — Sein Blut
tropft.
Das Licht ist
mir aus der Hand gestürzt. Es ist wieder stockfinster. Da greift er zu. Seine
beiden eisigen Knochenhände liegen auf meinen Schläfen. Die Fingerspitzen
bohren sich ein und ziehen. Der Tote reißt mich heraus. Der Kopflose
triumphiert. Ich bin gezeichnet! Alles ist zu Ende. Ich sterbe —«
Der Mund in
dem eingefallenen, bärtigen Gesicht vor mir krächzt ganz heiser. Dann spricht
er wieder: »Am Morgen hoben sie mich auf. Ich lag vor dem Bauernbett. Ein
heftiges Fieber ergriff mich. Nachmittags zog ich mich heimlich an und schlich
ungesehen davon. Ich wollte ihm nicht noch einmal begegnen. — Er hat mich auch
in Ruhe gelassen. Er verfolgte mich nicht mehr. Er hatte mich ja schon
gezeichnet!«
Jetzt kam
wieder dieser typische Zustand der Starre und Bewußtlosigkeit über ihn. Ich
erhob mich. Meine Freundin lag draußen in der Sonne. Ich war zu erschöpft, als
daß ich noch länger hätte wachen können. Sie mußte mich ablösen.
Ein Knarren
weckte mich. Wie viele Stunden halte ich geschlafen? Im Zimmer lag eine neblige
Dämmerung, von der man nicht wußte, ob sie Abend oder Morgen andeutete. Hatte
es nicht gepocht? Entsetzt starrte ich neben mein Bett. Nein, nichts. Ich
phantasierte auch schon. — Aber etwas mußte mich doch geweckt haben! Die Tür hatte
geknarrt. Hastig blickte ich auf. Da stand — war sie es — eine Frau — meine
Freundin. Mit einem totbleichen, veränderten Gesicht und allen Kennzeichen der Ueberanstrengung
lehnte sie im Türrahmen. Ich fuhr empor und war schon bei ihr. Sie wehrte mich
ab.
»Was gibt es?«
Sie
antwortete ruhig, aber mit seltsam tiefer, gewaltsam harter Stimme: »Er ist
tot.«
»Wie spät ist
es denn? So schnell kann doch seine Krankheit gar nicht zu Ende führen. Du
täuschst dich, es ist nur die Hirnlähmung.«
»Nein, es ist
fünf Uhr morgens; du hast vierzehn Stunden geschlafen.«
Ich war
verdutzt und lachte. Aber um ihren Mund zog sich nur ein krankes, klägliches
Lächeln. Sie schwankte.
»Was ist mit
dir? Du bist so verwandelt. So lege Dich doch schon hin!«
»Laß noch
einen Augenblick. Ich will Dir nur sagen, wir müßten ihn mitnehmen.«
»Mitnehmen?
Weshalb? Die Gemeinde wird hier schon für ihn sorgen.«
»Nein, wir,
gerade wir müssen ihn mitnehmen. — Er hat mir alles gesagt. — Er wird gesucht,
von den Behörden gesucht, weißt Du? Er ist ja ein Mörder!«
Das traf mich
wie ein Schlag. Sie sprach es so kindlich und hilflos; und doch kam es
unerwartet, betäubend. Er war also inzwischen nochmals erwacht. Und dieser
verbrecherische und leidende Mensch hatte mit ihr gesprochen! Sie achtete gar
nicht auf die Wirkung ihrer Worte. Mit ihrer gezwungenen, ernsten Stimme redete
sie weiter auf mich ein: «»Er hat einen jungen Künstler, einen Rivalen,
getötet. Unüberlegt, in Wut. Aber er hat nicht schlecht gehandelt. Nein, glaube
mir, er hat wirklich nicht schlecht gehandelt. Nur, er wird von der Behörde
gesucht — da müssen wir ihn mitnehmen, ganz bestimmt.«
»Ich verstehe
Dich nicht. Wie sollen wir ihn fortbringen? Das könnten wir doch garnicht. Wir
benachrichtigen die Polizei nur. Das wird genügen.«
»Ach, warum
quälst Du mich so! Nimm ihn mit, nimm ihn bitte mit. Er ist ja gesucht worden —
wir müssen zeigen, daß wir ihn gefunden haben. — Gott, warum verstehst Du
nicht? Ich habe ihn doch auch gesucht. Er ist ein Mörder und —«
Alle Farbe
wich plötzlich aus ihrem Gesicht. Die Stimme versagte. Dann, mit dem Ausdruck
eines unfaßbaren Entsetzens, stammelte sie noch die kaum verständlichen drei
Worte: »— und mein Bruder!«
Lautlos, am
Ende ihrer Kraft, brach sie vor mir zusammen. Der erdfahle Kopf war, noch bevor
ich hinzuspringen konnte, hart gegen eine Metallkante des Türrahmens
geschlagen. Ein dünner Blutstrahl schoß auf den Boden. —
— Vier Tage
später wurden die Geschwister nebeneinander begraben.