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Freitag, 26. Oktober 2018

Johannes Wendelin - Spuk


SPUK
Erzählung von Johannes Wendelin


Ein frischer, eislufterfüllter Wind fegte unaufhörlich den Bahndamm hinunter. Wir standen auf dem versteckten Perron eines kleinen Bergortes in der französischen Schweiz. Soweit das Auge reichte: Felsen, Klüfte, Fichtentäler und In der Höhe die ewigen Schneekuppen und ein hellblauer dünner Himmel.
Neben mir wippte meine lebenslustige Freundin auf den Zehenspitzen auf und nieder. Sie hatte keinen Sinn für Seßhaftigkeit und wartete noch ungeduldiger als ich darauf, fortzukommen. Vor einigen Tagen war sie mit mir auf eine unvorbereitete Liebesreise ausgerissen; daneben aber verfolgte sie noch einen anderen Zweck. Sie benutzte seit Jahren jede Möglichkeit, in die Welt hinaus zu kommen, weil sie nach einem verschollenen Bruder suchte. Sie selbst hatte ihn nicht gekannt. Ihre Eltern hatten ihr erzählt, daß er frühzeitig verunglückt, der Leichnam aber nie aufgefunden worden sei. Vielleicht war es nur eine Starrköpfigkeit von ihr; aber sie glaubte nicht an seinen Tod, obwohl alle Nachforschungen und Reisen vergeblich blieben.
Von Ferne klang endlich das Stampfen und Fauchen des Zuges herauf. Die Entfernungen täuschten, wenige Minuten danach verschlang schon die kleine gedrungene Lokomotive mit schwerem Zischen langsam die schwarzen Bahnschwellen zwischen uns und ihr.
Ein einziges Abteil wurde aufgeschlagen. Das erregte Gesicht eines älteren Herren sprang an uns vorüber. Wir mußten warten, da offenbar mehrere Reisende heraus wollten. Ein dunkel bekleideter Bauernrücken schob sich in die Türöffnung, scheinbar noch mit einer schweren Last im Innern beschäftigt.
Da hörte ich hinter mir den ärgerlichen und hastigen Ruf: »Où est le chef de gare? Hélas, monsieur, nʼy a-t-il pas un médecin chez vous? Nous avons un malade.«
»Voilà, monsieur,« rief ich und drehte mich um.
Der Herr mit dem erhitzten Gesicht lief auf mich zurück: »Ah, sacre Dieu, cʼest bien«, und den Deutschen in mir erkennend: »Man trägt ihn hinaus, sehen Sie . . .«
Ueber dem inzwischen ganz heruntergetretenen Bauern sah ich einen zusammengefallenen, bewußtlosen menschlichen Rumpf. Ich schrak zusammen. Das Antlitz seinen mir nicht unbekannt, aber es sah grauenhaft aus. Bleich, abgezehrt und eingefallen, aber ununterbrochen bewegt, krampfhaft zuckend. Ein nur wenige Wochen aller, ungepflegter Vollbart, und die verwirrten Haarbüschel machten es noch wilder und leidender. Ich suchte die herabhängende Hand; hohes Fieber, ein verdoppelter Puls hämmerte durch die Adern.
Man legte den Kranken auf eine Bank. Leise wimmernd und stöhnend griff er mit unruhigen Fingern an den Kopf. Dort schien der Krankheitsherd zu liegen. Meningitis? Ich war meiner Sache nicht ganz sicher.
Jedenfalls mußte ich bleiben. Es tat mir meiner jungen Freundin wegen besonders leid. Doch Eile tat Not. — Eine Stunde später lag der Kranke mit einem Eisbeutel auf dem rasierten Schädel in einem Fremdenbett des tiefer gelegenen Wirtshauses des Ortes im verdunkelten Zimmer.
Wir kannten ihn wohl doch nicht. Die einzige Spur in unserer Erinnerung wies nach Berlin, wo wir dem jungen Mann in der Gesellschaft begegnet sein konnten. Sein Zustand war aussichtslos: eine Gehirnhautentzündung, die den entscheidenden Punkt schon überschritten hatte. An die Stelle der Unrast war jetzt eine Ruhe getreten, die der Lähmung glich. Aber zwischen den Anfällen tiefen Schlafes lagen Momente, ja Stunden des Bewußtseins, in denen er sogar sein Gedächtnis wiedererlangte und schwerfällig sprach.
Auch uns erkannte er nicht. Wir wachten abwechselnd Tag und Nacht am Bett. Ich fragte ihn nach den Ursachen seiner Krankheit. Ob er gestürzt sei oder einen Schlag auf den Schädel erhalten habe? Oder ob er Alkoholiker wäre? Zuletzt deutete ich an, daß die Krankheit durch eine große seelische Erregung hervorgerufen sein könnte.
Da sah er mich fast lauernd an. Seine Pupillen waren übergroß und tief schwarz geworden. Dann überlegte er, blickte wieder zu mir zurück und schien eine längere Erklärung geben zu wollen. Eine neue Erregung konnte ihm jetzt nicht mehr schaden, vielleicht nur sein Ende beschleunigen. Er sprach zuweilen abgehackt, heiser, vereinzelt auch ganz laut. Meist lag er wie in einer Vision mit weit aufgerissenen Augen:
»Ja — Sie haben Recht damit — es war vor zwei Tagen —« ich wußte, daß dies Lüge war, die Krankheit mußte bereits länger dauern, »— ich kam — sehr ermüdet — an einen Waldrand — und blieb liegen. Damals — hatte ich auch schon keine Kraft mehr. Und — ja — vielleicht, ich weiß nicht, hatte ich auch schon Fieber. Aber in der Nacht — das — das allein ist die Ursache von allem.
Ich wurde dort aufgelesen, von Bauern. Als ich erwachte, lag ich in einem Bett. Einem Landbett mit Federdecken, in einem fast kahlen Zimmer. Es war dunkel. Niemand war im Raum. Mir war sehr heiß. Ich schlief dann wieder ein. Mir erschienen Menschen, die ich kannte. Ein Mädchen — aus meiner Stadt. Sie sagte mir etwas, was ich nicht erwartet hatte. Dann kam auch er — nein, dann kam ein Mann, ein Künstler, ein Mensch mit stechendem Blick und einer scharfen, gebogenen Nase. Der wollte sich rächen — ach, was sage ich da — er wollte mir Böses tun — mit Gewalt. Er schrie mich an. Da erwachte ich.
Ganz in meiner Nähe klopfte es, so, als ob Jemand einen leeren Holzkasten neben mein Ohr hielt und zaghaft darauf pochte. Ganz leise und behutsam. Aber das Zimmer war stockfinster, ich sah nichts. Das Klopfen kam in Zwischenräumen wieder. Jedesmal wurde es schärfer, eindringlicher. Ich täuschte mich nicht. Es war an dem Holzgestell meines eigenen Bettes. Solche Schläge konnte nur ein Mensch hervorbringen! Ich bekam Angst. Ich hielt den Atem an. Mein Herz hämmerte mit lauten Stößen.
Da vernehme ich plötzlich ein Rascheln. Es ist kein Zweifel mehr! Die Geräusche kommen unter meinem Lager hervor. Ich will schreien; aber ich wage es nicht. Ich kann auch gar nicht. Jetzt scharrt es regelmäßiger. Ein vorsichtiges Schieben von Stelle zu Stelle. Es kommt deutlicher heraus. Vor Furcht werde ich geschüttelt. Ich sitze halb aufrecht. Weiche Laute fassen dazwischen. Jemand greift an das Bettgestell. Mein Herz rast wild! Wie ein Tappen ist es ganz in meiner Nähe. Ich spüre in der Dunkelheit das Dasein des anderen. Vom Innersten an bin ich ganz Angst — Angst und Schrecken.
Wie ich an das Licht auf dem Nachttisch kam — weiß ich nicht. Aber ich konnte ein Streichholz anzünden. Die Kerze flackerte. Die Stube war zu dunkel. Ich vermochte nichts zu sehen. Da brannte die Flamme ruhig und hoch auf. Nichts da. Ich beuge mich vor — — und schreie — schreie — glaube zu schreien — denn in Wirklichkeit preßt sich ein Ächzen und Röcheln aus meinem Mund. Unter mir — unter dem Bett — da kommt ein nackter, menschlicher Rumpf — Schultern — ein Hals ohne Kopf — mit einer blutenden Wunde hervor.
— Ich weiß nicht mehr alles, was war. Ich höre mich ununterbrochen jammern und wimmern. Wie ein Hund, der jault. Der Rumpf mit der offenen Wunde kriecht weiter! Die Oberarme, hager und bloß, schieben ihn allmählich hervor. Alles ist so elend, so ausdruckslos. Wo ist der Kopf? Wenn ein Gesicht da wäre, das würde mir etwas sagen. Die Züge hätten irgendeinen Sinn. So ist aber gar nichts da. Nur ein blutender Körper. Sein Körper! Nie habe ich ihn ohne Kleider gesehen, aber ich weiß es. Ich verstehe auch, weshalb der Kopf nicht da ist. Er hat mich nicht ängstigen wollen. Er kennt meine Scheu vor dem stechenden Auge. Ich habe ihm gesagt, daß es mich beunruhigt, wenn er mich ansieht. Deshalb hat er das Haupt fortgetan. Aus Mitleid mit mir. Aus Fürsorge. Das hatte ja sie, die mir vorher erschienen war, auch gesagt.
Aber dies ist viel entsetzlicher. Das Grauen packt mich! Ich winsele immer unterdrückt weiter. Da — da — die Schultern ziehen die Arme ganz heraus. Seine langen Finger — sie pochen noch einmal an — ah, jetzt erkennen sie — empfinden sie mich. Sie werden emporgehoben. Der ganze nackte Oberkörper schwebt hoch. Mir entgegen. Die Arme, die langen, fürchterlichen Arme heben sich. In weitem Bogen. Zu mir. Ich will nicht, nein, nein, ich will nicht. Du sollst mich nicht umarmen! Du sollst mir nicht verzeihen! Geh fort! Vater unser, — Schemah Jisroel —, es gibt keinen Gott, — ich, ich, — Allah il Allah! — Sein Blut tropft.
Das Licht ist mir aus der Hand gestürzt. Es ist wieder stockfinster. Da greift er zu. Seine beiden eisigen Knochenhände liegen auf meinen Schläfen. Die Fingerspitzen bohren sich ein und ziehen. Der Tote reißt mich heraus. Der Kopflose triumphiert. Ich bin gezeichnet! Alles ist zu Ende. Ich sterbe —«
Der Mund in dem eingefallenen, bärtigen Gesicht vor mir krächzt ganz heiser. Dann spricht er wieder: »Am Morgen hoben sie mich auf. Ich lag vor dem Bauernbett. Ein heftiges Fieber ergriff mich. Nachmittags zog ich mich heimlich an und schlich ungesehen davon. Ich wollte ihm nicht noch einmal begegnen. — Er hat mich auch in Ruhe gelassen. Er verfolgte mich nicht mehr. Er hatte mich ja schon gezeichnet!«
Jetzt kam wieder dieser typische Zustand der Starre und Bewußtlosigkeit über ihn. Ich erhob mich. Meine Freundin lag draußen in der Sonne. Ich war zu erschöpft, als daß ich noch länger hätte wachen können. Sie mußte mich ablösen.
Ein Knarren weckte mich. Wie viele Stunden halte ich geschlafen? Im Zimmer lag eine neblige Dämmerung, von der man nicht wußte, ob sie Abend oder Morgen andeutete. Hatte es nicht gepocht? Entsetzt starrte ich neben mein Bett. Nein, nichts. Ich phantasierte auch schon. — Aber etwas mußte mich doch geweckt haben! Die Tür hatte geknarrt. Hastig blickte ich auf. Da stand — war sie es — eine Frau — meine Freundin. Mit einem totbleichen, veränderten Gesicht und allen Kennzeichen der Ueberanstrengung lehnte sie im Türrahmen. Ich fuhr empor und war schon bei ihr. Sie wehrte mich ab.
»Was gibt es?«
Sie antwortete ruhig, aber mit seltsam tiefer, gewaltsam harter Stimme: »Er ist tot.«
»Wie spät ist es denn? So schnell kann doch seine Krankheit gar nicht zu Ende führen. Du täuschst dich, es ist nur die Hirnlähmung.«
»Nein, es ist fünf Uhr morgens; du hast vierzehn Stunden geschlafen.«
Ich war verdutzt und lachte. Aber um ihren Mund zog sich nur ein krankes, klägliches Lächeln. Sie schwankte.
»Was ist mit dir? Du bist so verwandelt. So lege Dich doch schon hin!«
»Laß noch einen Augenblick. Ich will Dir nur sagen, wir müßten ihn mitnehmen.«
»Mitnehmen? Weshalb? Die Gemeinde wird hier schon für ihn sorgen.«
»Nein, wir, gerade wir müssen ihn mitnehmen. — Er hat mir alles gesagt. — Er wird gesucht, von den Behörden gesucht, weißt Du? Er ist ja ein Mörder!«
Das traf mich wie ein Schlag. Sie sprach es so kindlich und hilflos; und doch kam es unerwartet, betäubend. Er war also inzwischen nochmals erwacht. Und dieser verbrecherische und leidende Mensch hatte mit ihr gesprochen! Sie achtete gar nicht auf die Wirkung ihrer Worte. Mit ihrer gezwungenen, ernsten Stimme redete sie weiter auf mich ein: «»Er hat einen jungen Künstler, einen Rivalen, getötet. Unüberlegt, in Wut. Aber er hat nicht schlecht gehandelt. Nein, glaube mir, er hat wirklich nicht schlecht gehandelt. Nur, er wird von der Behörde gesucht — da müssen wir ihn mitnehmen, ganz bestimmt.«
»Ich verstehe Dich nicht. Wie sollen wir ihn fortbringen? Das könnten wir doch garnicht. Wir benachrichtigen die Polizei nur. Das wird genügen.«
»Ach, warum quälst Du mich so! Nimm ihn mit, nimm ihn bitte mit. Er ist ja gesucht worden — wir müssen zeigen, daß wir ihn gefunden haben. — Gott, warum verstehst Du nicht? Ich habe ihn doch auch gesucht. Er ist ein Mörder und —«
Alle Farbe wich plötzlich aus ihrem Gesicht. Die Stimme versagte. Dann, mit dem Ausdruck eines unfaßbaren Entsetzens, stammelte sie noch die kaum verständlichen drei Worte: »— und mein Bruder!«
Lautlos, am Ende ihrer Kraft, brach sie vor mir zusammen. Der erdfahle Kopf war, noch bevor ich hinzuspringen konnte, hart gegen eine Metallkante des Türrahmens geschlagen. Ein dünner Blutstrahl schoß auf den Boden. —
— Vier Tage später wurden die Geschwister nebeneinander begraben.

Hermynia Zur Mühlen - Tod dem Bourgeois!

Tod dem Bourgeois! Er hockt herum, schwersäßig, angefressen, stumpf, ein Erdklumpen, jedes Aufschwungs unfähig, kleinlich bis in die letzte ...