Ein Schreien, das widersetzlich beginnt, wenn es am lautesten wird, vor
Wut sich überschlägt und verebbend kraftlos fauchend erliegt, schleudert aus
dem Neugeborenen, das herausgepresst und herausgezerrt werden muss, eine
Auflehnung, die nie wieder ganz zerbricht, oft dünn wird oder spärlich, selten
häufig oder starr und die erst mit dem Tod endet, welcher ihr Recht in der
Angst vor ihm metaphysisch durchfahlt. In der Geburt als Ursache schreit schon
der Tod als Wirkung und die Wut, die das Leben gegen ihn verteidigt, verteidigt
ihn auch gegen das Leben. Diese Auflehnung, die dort verweigert, was hier
Wehrlosigkeit aufgebürdet bekam, ist das grosse Mass und dessen Pole umklammern
das Schicksal. In ihm ist die Entscheidung auf Leben und Tod: den Himmel als
Hoffnung zu läugnen oder die Erde als Hölle zu erleben. Vor der Zahllosigkeit
jener Schwäche, die leere Gier ist und stumpfes Sorgen, starrt die seltene
Kraft dieser Einzelnen, deren Grösse Qual ist.
Vorbei am jahrelangen Spalier zurückweichender Unsäglichkeiten bleiben
sie reif vor dem Antlitz des Menschen stehen und Verlegenheit rötet sie. Sie ist
die Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit oder der des andern oder der aller
und das marternde Erleben einer urtiefen Schuld, die untrennbar allem Leben
verwoben ist. Aus ihr reckt sich der verzweifelte Wille zur Hilfe, dessen
Schmerzensweg durch das Dickicht menschlicher Verlorenheiten, die auch
erwartet jede Erwartung verhöhnen, immer wieder vor die jahrtausendealte Sphinx
des Menschen führt. Sein Antlitz entstellt die wehe Last des vergangenen
Gelebten, das dumpf blieb und deshalb Schuld ist und das zu klären das helfende
Gespräch vermöchte, dessen sittliche Kraft des Erkennens, welches Ketten im
Unbewussten reibender Erinnerungen aufnimmt, bereinigt. Doch im ersten Anfang
solch liebenden Strebens schon machen Triebgewalten, die einen Stachelkranz von
Zweifel und Begierde in die Stirn drücken, den Beladenen herniederstraucheln
und nur wer zutiefst das Wissen trägt, dass er sagen muss, was er erkennt, um
seine Schuld und die des andern nicht zu mehren, dass das dumpfe Vergangene des
andern zur eigenen Schuld stösst, wenn es nicht an dem erkannten eigenen
aufgehellt wird, soweit es zuteil ward, nur der vermag die weiten Dunkelheiten,
die noch während des Sprechens ihn betreten und ihn sich verlieren zu lassen
drohen, an die Sonne des Wortes hervorzureissen. Um die Mitte dieser
Hilfeleistung aber schleicht die schwere Gefahr entscheidender Verschiedenheit:
entspricht dem sittlichen Wollen des andern nicht die intellektuelle Kraft oder
fehlt dem Intellekt des andern jenes Wollen, so stürzt jedes Helfen über den
unweigerlich emportaumelnden Hass, welcher der grösseren Vollkommenheit gilt,
die ohne die geringere die grössere nicht sein könnte. Da aller Hass deshalb
letzthin sich gegen sich selbst richtet und seinen Träger verneinen müsste,
wird er, der hier festgehalten hoffnungsreichste Entscheidung wäre, doch fast
stets Ursache neuer Schuld: er schnellt mit jener Behendigkeit, welche die
Schwäche stets parat hat, um hinterhermotivierend sich selbst zu belügen, auf
den Vollkommeneren zurück, als wäre dieser, der in Wirklichkeit lediglich
Veranlassung ist, der Urheber. Doch ein flinkes Gehirn, das allen
Taschenspielerkunststücken seines Hasses folgen kann, wird den andern, je
länger und weiter die eigene Unvollkommenheit sich hetzt, als schuldärmer erkennen
und noch abgründiger hassen. Das Ende, das hier unabsehbar und über die
dialektischen Kniffe jenes Hasses, seinen feigen Witzworten und zornigen
Insulten hinweg nur von der überlangen Reihe menschlicher Schwächen bestimmt
ist, wird unbedingt, wenn solch ein Nurgehirn auf ein kongruentes trifft: der
harte Kampf der Worte, der um ein Ens geht, das niemals erdacht, geschweige
denn ersprochen werden kann, endet mit der höhnenden Unterjochung des
ungelenkeren Wortemachers oder brachial und wird es ganz schwarz, in irrsinnigem
Gelächter, hinter dem jene Untiefe sich auftut, aus der das Verbrechen lauert.
Und das gute Ende, das sittliches Wollen einander bringt, ist nur die tragische
Separation des Geistes von menschlicher Hilfereichung: der Glaube des einen
glaubt den des andern und grüsst ihn demütig von Ferne, da nichts mehr zu sagen
ist als die grosse Qual der Einsamkeit vor dem Glauben an den Geist.
Diese Qual, die im Zwiegespräch sich verdoppelt, wächst im Beisammensein
mit mehreren ins Unerträgliche, Übermenschliche und was zurückbleibt, ist ein
unaustilgbares Mal, das bleich und bös tausendfach durch die Strassen
schreitet. Schon die schweigende Anwesenheit von Menschen, die ein Raum
abschliesst, führt ein penetrantes Schuldgefühl herauf, das wächst und schwillt
und das Ringen um die rettende Güte wird im Angesicht der Vielgestalt des
Unklaren, Verhaltenen, Verzweifelten, Verbissenen, das sofort geäussert werden
müsste, um nicht Hass zu erzeugen, das Schwerste. Doch nur Verhüllendes wird
erzwungen belanglos hingeworfen. Aber das Ungesagte frisst sich tiefer,
schmerzt und höhlt und plötzlich hockt in allen Blicken Misstrauen, Aerger,
Feindseligkeit, die immer blitzender, ausfüllender werden und alles verwirren,
selbst das konventionelle Geplapper, in das langsam hämische Töne einbrechen,
verlogene Heiterkeiten, die in den Schwächsten leichtes Grauen entrollen,
mühsam entstehende Worte, die von aussen her einen ungewollten Klang erhalten,
leer werden, sobald sie gesprochen sind und angestrengtes Nachhorchen,
Nachdenken verursachen und immer mehr und mehr verwirren. Heisse Angst umpresst
alle und treibt sie, Böses zu bekennen, wo es nicht war, und dort, wo es war,
es zu überschrauben, andere zu beschuldigen, die es nicht begingen, und die es
begingen, zu loben, als wahr Erkanntes falsch zu heissen und Falsches wahr, um
das Qualvolle der Verwirrungen durch neue Verwirrungen erträglicher zu machen.
Und es steigt unaufhaltsam und wie erstickend und schlängelt einen Rattenkönig
verfehlter Ueberlegungen, übertriebener Handlungen, zielloser Rettungsversuche
hinter sich drein. Und selbst derjenige, der sich selbst verleugnend den
sittlichen Ernst vor dem Ereignis sich erwarb, vermag nicht mehr, ihn sich zu
bewahren. Wohl weiss er, dass der Fäden, die zu einem Ereignis sich verknoten,
abertausend sind, dass sie weit zurücklaufen und zu Ursachen leiten, die ach so
selten ganz erkennbar sind; dass der sicherste Weg, sich in menschlichen
Beziehungen zu irren, deshalb ist, scharfsinnig zu motivieren; dass die einzige
Hilfe wäre, aufzuschreien und um Gnade zu bitten. Doch er wird mitgerissen und
aufknirschend unter diesem unentrinnbaren Zwang beginnt er zu hassen, sich und
alle und hasst diesen Hass und sitzt da, ein irr lächelnder Bösewicht gleich
den andern, bis eines jener folternd strafenden Schweigen anbricht, das rote
Angst über die Gesichter jagt und ein kühles Schauern durch den Körper. Dann
ist es zu Ende und einen Berg im Nacken, die Augen verloschen, reichen sie die
hohlen Hände, und wenn sie einander wieder begegnen, grüssen sie nicht.
Brückenlos steht Mensch vor Mensch. Und alsob alles, was Jammer und
Mühsal ist, in eins hätte zusammengepfercht werden müssen, wirft eine schwere
Fügung ein wildes Bedürfnis dem Menschen in den Schoss und drängt ihn
machtvoll, Genuss irrlichtelierend, seinen Körper dort mit einem andern zu
binden, wo aller Jammer, alle Mühsal ihren Ausgang hat. Die Brücke, deren
Fehlen den reissenden Strom des Hasses zwischen den Menschen lässt und sie
einsam an seine Ufer stellt, ist zwischen den Leibern errichtet. Sie ist nur
eine fliegende, hergestellt ein blindes Rasen woher wohin, und abgebrochen
mehr Weg- und Zielsehnsucht zurücklassend als vordem. Einzelne allein vermögen
es, sie nur zu betreten, wenn unabwendbare Not es gebietet, und so, dass es
Hilfe bleibt, weder Weg wird noch Ziel: denn diese Brücke bricht umso rascher,
je mehr auf sie gebaut wird und tausend Schwachgeborene wiegen in ihrer
tierischen Quallosigkeit nicht einen Starken auf, dessen Gehirn ihm das Dasein
zur Marter macht. Was den andern an innerer Kraft versagt blieb, zimmert ihre
Schwäche sich zu einem Himmel hienieden, der sie in der Scheinlust des
Ineinanderseins für die Beschwernis des Beisammenseins entschädigen soll.
Diesem Trugbau des Mannes kommt das Weib auf ganzem Weg entgegen, indem es die
Vollkommenheit, welche die trieberzeugte Blindheit des Mannes ihm
zuphantasiert, um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, annimmt und sie, sich
verstellend, vorstellt. Doch kein Mann stirbt, ohne diese Verstellung einen
Augenblick lang erkannt und die fehlende Kraft zur Konsequenz resignierend sich
bekannt zu haben und alle leben in dem stets wiederkehrenden Gefühl eines
Drucks, einer Last, einer Schuld. Sie ist die grösste, da sie alles auf dem
Gewissen hat, was Qual ist: das Leben. Der Jammer der Ehen, die Mühsal der
Familien stöhnen nicht durch die Mauern; stumm stehen sie auf den Gesichtern
und neben allem Lachen, aller Freude als etwas Schweres, Wehes, bis sie
zwischen den Brauen als Hass zusammenfahren. Seine letzte Wurzel ist das
Geschlecht. Von ihm aus stellt er den Mann, der helfen, möchte, wider das Weib,
dem nicht zu helfen ist, das Weib, das nicht geholfen haben will, wider den
Mann, der helfen könnte, die Söhne, die sich bäumen, wider die Väter, die
gebückt sind, die Väter, die sich nicht aufrichten können, wider die Söhne, die
es wollen, den Menschen wider den Menschen und wider sein eigenes Geschlecht.
Dieser Hass ist die Auflehnung gegen die Schuld der Geburt und des
Lebens und gegen all die Unzulänglichkeit, welche die Erde zur Hölle macht, so
wird er das grosse Mass. Es ist die kleine Erkenntnis der irdischen
Hilfereichung, ohne Wohltat zu sein oder Plage, und jene grosse, dass der Geist
als höchste Besonnenheit keine völlige Klarheit über das Leben erlangen kann
und auf sich selbst sich zurückziehen muss, um einsam als hoffender Glaube sich
abzuquälen und auf den erlösenden Tod zu warten. Vor dessen Schwelle ist die
Angst gestellt, jene letzte Auflehnung, welche die letzte Qual ist und zugleich
eine grosse Warnung: dass die Schuld, welche mitbekam wem das Leben gegeben
ward, zu tragen ist, bis der, welcher sie auferlegte, sie wieder abnimmt.
Aus: Sirius 1915/16